Kirchheim

Einfach ein normales Leben führen

Migration Nawin lebt in einer Kirchheimer Flüchtlingsunterkunft, büffelt täglich viele Stunden deutsch und will einen guten Hauptschulabschluss hinlegen. Sein größter Wunsch ist jedoch ein Studium. Von Iris Häfner

In Afghanistan hatte Nawin ein eigenes Fotostudio. Bei einem Praktikum beim Teckboten freut er sich, endlich wieder eine Kamera
In Afghanistan hatte Nawin ein eigenes Fotostudio. Bei einem Praktikum beim Teckboten freut er sich, endlich wieder eine Kamera in der Hand zu haben.Foto: Carsten Riedl

Noch vor der großen Flüchtlingswelle im Sommer 2015 kommt Nawin nach langer Odyssee und aufregender Flucht im Wohnheim in der Charlottenstraße in Kirchheim an. Der junge Mann aus Afghanistan ist gerade 18 Jahre alt geworden und hat seine abenteuerliche Flucht überstanden. Nun gilt es, sich in dem fremden Land einzuleben. Ziemlich schnell ist sein Tagesablauf klar strukturiert: lernen, lernen, lernen. „Ich habe mir eine App heruntergeladen und selbst begonnen, über englisch deutsch zu lernen“, sagt Nawin. Die Stadtbücherei wird sein zweites Zuhause, jede freie Minute verbringt er dort.

Ab September 2015 geht er in die Vorbereitungsklasse in der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule. Deutsch lernen steht hier im Vordergrund - und diese Möglichkeit hat er konsequent genutzt, Nawin kann sich inzwischen gut auf Deutsch verständigen. Sein nächstes Ziel ist der Hauptschulabschluss an der Max-Eyth-Schule, für den er gerade büffelt. 18 Schüler unterschiedlicher Nationalitäten sind sie in der Klasse, darunter ein Mädchen. Ein Lieblingsfach hat er nicht. „Je mehr, desto besser“, sagt der wissbegierige Afghane, der bei unserer Zeitung ein einwöchiges Berufspraktikum absolviert.

In seiner Heimat war er zehn Jahre in der Schule, wobei er schon im Alter von fünf Jahren seinem Vater beim Schweißen half. Als er in Deutschland ankommt, spricht er schon vier Sprachen: Dari, eine persische Sprache, ist seine Muttersprache. Dazu kommen Paschtu, Amtssprache in Afghanistan, und Urdo, laut Wikipedia ein indoiranischer Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Außerdem spricht er englisch - und nun deutsch, das er täglich verbessert. Um 6 Uhr steht er in der Regel auf und beginnt mit den ersten Lektionen, dann geht er in die Schule, um danach bis 19 Uhr deutsch zu lernen - und vor allem um zu lesen. „Ich war in Deutschland noch nie in der Disco oder im Kino. Geld gebe ich lieber für Bücher aus. Ich kenne auch schon die Geschichte von Baden-Württemberg und weiß jetzt, warum es bei Spielen zwischen Karlsruhe und dem VfB Stuttgart bei den Fans zu Streit kommt. In Geschichtsbüchern habe ich schon als Kind gelesen, auch wenn mein Vater immer behauptet hat, dass ich das noch nicht verstehe“, erzählt Nawin.

Erstaunt ist er über die Bedeutung des 18. Geburtstags in Deutschland. „In Afghanistan ist das egal. Ich hatte dort vor der Flucht mein eigenes Fotostudio. Das ist in meiner Heimat völlig normal“, sagt der 19-Jährige. Ein Jahr lang war er zuvor in einem Ins­titut für Modefotografie, um diesen Beruf zu erlernen. „Ein bissle Modedesign war auch dabei“, ist der schwäbische Zungenschlag zu hören. Direkt nach dieser Ausbildung machte er sich selbstständig und zog bei seinen Eltern aus.

Nawins größter Wunsch, der seit einem Jahr eine Wohnung sucht, ist es, zu studieren: entweder Betriebswirtschaft oder im IT-Bereich. „Das ist jedoch unerreichbar“, sagt er und denkt dabei an seine Familie, die er unterstützen will und zu der er dank Mobiltelefon regelmäßig Kontakt hat. Plan A ist deshalb eine Ausbildung als Computerfachmann, Plan B die Fotografie. Auch sonst hat er klare Vorstellungen vom Leben: „Mensch ist Mensch. Religion und Nationalität sind egal. Du musst die Sprache des Landes sprechen, sonst bist du blind, taub und stumm.“

Das Gefühl, als er endlich in Deutschland angekommen ist, kann er nicht beschreiben. „Ich habe nie aufgegeben. Wenn ich 100 Mal hinfalle, stehe ich 101 Mal auf“, erklärt Nawin. Ein Ziel im Leben zu haben, sei wichtig für einen jungen Menschen. Seines ist: „Ein ganz normales Leben in Sicherheit führen mit einem guten Beruf, einer Frau und Kindern. Viel Geld brauche ich dazu nicht.“

Einfach ein normales Leben führen
Einfach ein normales Leben führen

Zweimal Gefängnis - und irgendwann in Freiheit

Kirchheim. Flucht - darin sah Nawins Vater den einzigen Ausweg für ein sicheres Leben für wenigstens ein Mitglied der einstmals zehnköpfigen Familie. Der älteste Sohn ist bei einem Anschlag ums Leben gekommen, er war als Übersetzer bei der ISAF tätig. So machte sich der damals 17-jährige Nawin von Kabul aus auf den Weg nach Westen und kam im April 2015 in der Charlottenstraße in Kirchheim an. Dazwischen lagen Wochen der Angst und die Unsicherheit als ständiger Begleiter. 13  Länder hat er durchquert. „Ich war allein und illegal unterwegs“, erzählt er.

Ein besseres, vor allem aber ein sichereres Leben wünscht sich der Vater für seinen Sohn, aber auch Nawin selbst: „Ich will nicht sterben“, sagt er. Afghanistan ist aus Sicht von Rainer Arnold, hiesiger SPD-Bundestagsabgeordneter sowie Verteidigungspolitischer Sprecher seiner Fraktion, kein sicherer Staat, der Landweg überall im Land lebensgefährlich. Er weiß, wovon er spricht. Rund 20 Mal war er am Hindukusch.

Nawin gehört dem Stamm der Hazara an, seine Eltern sind aus dem Norden des Landes in die Hauptstadt gezogen, wo er mit sieben Geschwistern aufwuchs. Die Hazara sind persischsprachig, Schiiten und werden - obwohl muslimischen Glaubens - von der sunitschen Mehrheit im Land diskriminiert. Das geht bis zu Mord, und es wurden schon Massaker verübt.

Von Kabul bis in die Türkei ist Nawin zu Fuß und mit dem Auto unterwegs. „Es gibt viele Wege, um mit Schmugglern nach Europa zu gelangen. Wir sind Tag und Nacht gefahren, wir waren alle Jugendliche“, erzählt Nawin. Der Bus als Transportmittel ist gefährlich, stattdessen zwängen sich zwölf junge Männer in einen VW Golf-großen Wagen. Über Pakistan und Iran erreichen sie die Türkei, die sie komplett von Ost nach West durchqueren. Die Grenzen auf dem Landweg nach Griechenland und Bulgarien sind zu, deshalb geht es Richtung Mittelmeer. Erstes Boots-Ziel ist die griechische Insel Samos, nicht einmal zwei Kilometer vor der türkischen Küste gelegen. Von dort geht es mit einem großen Schiff nach Athen.

„Bis Mazedonien ging es ganz bequem. Dann waren wir acht bis neun Tage zu Fuß bis Skopje unterwegs. Wir hatten nicht genug zu essen, getrunken haben wir aus Bächen und Quellen in den Bergen“, erzählt Nawin. Zu allem Überfluss hat er auch noch mit seinem ein Jahr jüngeren Freund, den er auf der Flucht kennenlernt, die falsche Richtung eingeschlagen. Die beiden sind ab einem gewissen Zeitpunkt untrennbar, der eine geht ohne den anderen nirgendwo hin. Von Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, geht es mit dem Taxi nach Priština, Hauptstadt des Kosovo. Dort wird das Taxi gewechselt, Ziel ist die Grenze zu Serbien beziehungsweise Kosovo. Vier Tage brauchen die Jugendlichen zu Fuß, bis sie in Belgrad ankommen. „Wir hatten nur noch wenige Euro“, erinnert sich Nawin.

In der serbischen Hauptstadt laufen sie der Polizei in die Arme und landen zum ersten Mal für knapp drei Tage im Gefängnis. Die Beamten entscheiden, die Jungs in einem Flüchtlingscamp unterzubringen. „Da wollte ich aber nicht hin, deshalb sind wir nochmals zu Fuß 20 Kilometer bis zur ungarischen Grenze gegangen“, erzählt der 19-Jährige. Einen Tag verstecken sie sich in den Bergen - allerdings erfolglos: Sie werden von ungarischen und österreichischen Polizisten geschnappt und landen für rund eine Woche im Gefängnis. „Das war ein Keller und dann noch mal ein Keller darunter. Das war echt schwer“, sagt er nachdenklich. Gegenseitig geben sich Nawin und sein Freund Halt. Vom Gefängnis sollte es schließlich nach Tagen in ein Camp gehen. „Wir wollten aber beide weiter nach Österreich“, erklärt der Flüchtling und so steigen sie in einen Zug, werden aber erwischt und wieder ins Camp zurückgebracht. Von dort machen sie sich mit dem Zug erneut Richtung Österreich auf und werden prompt wieder geschnappt, was ihnen auch Schläge mit einem Stock einbringt. Versuch Nummer drei klappt. Sie steigen irgendwann in der Nacht aus dem Zug und verbringen „einen Tag und eine Nacht im Dschungel“ - und passieren nachts um 3 Uhr die Grenze zu Österreich. Nicht weit davon entfernt befindet sich ein Camp, dort bleiben sie etwa zwei bis drei Monate, bis alle Papiere in Wien vorbereitet sind.

Irgendwann können die beiden jungen Männer in Wien in den Zug nach Frankfurt einsteigen. „Wir sind zusammengeblieben, bis wir unser gemeinsames Ziel erreicht haben: Deutschland. Für meinen Freund war in Frankfurt die Reise zu Ende, für mich aber nicht. Irgendwann habe ich den Namen Stuttgart gehört und da wollte ich hin - ich kann nicht sagen wa­rum“, sagt Nawin. In der Landeshauptstadt angekommen, meldet er sich bei der Polizei. Es folgen die Stationen Karlsruhe und Heidelberg. „Dort war ich 20 Tage und dann wurde ich nach Kirchheim in die Charlottenstraße geschickt. Zu dem Zeitpunkt war ich 18.“ Mit dem Freund und Leidensgenossen hält er losen Kontakt, er lebt im Rheinland. Iris Häfner