Kirchheim

Kein Ausweg in Sicht

Zum Arbeitskreis Leben kommen immer mehr Menschen mit Selbstmordgedanken

Wer an Suizid denkt, muss nicht krank sein. Oft treiben schon Alltagsprobleme Menschen in scheinbare Ausweglosigkeit. Doch es gibt Hilfe.

Gabriele Alberth, Ursula Strunk und Harald Kuhn engagieren sich im AK Leben. Foto: Jean-Luc Jacques
Gabriele Alberth, Ursula Strunk und Harald Kuhn engagieren sich im AK Leben. Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Harald Kuhn und sein Klient, wie er ihn nennt, gehen alle paar Wochen gemeinsam spazieren. „Die frische Luft tut gut“, erzählt er. Man kommt mal raus, kann sich in Ruhe unterhalten, fühlt sich unbeschwerter als in einem kleinen Büro. Sein Klient ist verzweifelt. Kuhn ist kein Psychologe, hat aber Zeit. Außerdem hat er selbst schon persönliche Krisen durchlebt. „Meistens geht man gestärkt wieder raus“, sagt er. Das möchte er weitergeben, denn er weiß auch: Manche sehen in so einer Situation keinen anderen Ausweg als den Tod.

Vor fast zwei Jahren hat die Ausbildung zum Krisenbegleiter beim Arbeitskreis Leben angefangen. Jetzt ist er einer von knapp 30 Ehrenamtlichen, die beim Arbeitskreis Leben (AKL) im Landkreis Esslingen versuchen zu helfen. Oft brauchen die Klienten einfach mal jemanden zum Reden. Die Tatsache, dass sich beide vor den Treffen nicht kannten, kann befreiend sein. Gerade Depressive haben oft das Gefühl, ihren Bekannten und Verwandten mir ihren Problemen zur Last zu fallen.

Das Thema Selbstmord spielt in der Arbeit des AKL eine immer größere Rolle. Seit über 30 Jahren kümmert sich der AKL in Nürtingen und Kirchheim um Menschen, die ihre Krisen nicht mehr bewältigen können und fast immer waren die Menschen, die mit dem Thema Selbstmord zu kämpfen hatten in der Minderheit. 2011 waren es noch 42 Prozent, die damit in Berührung waren – sei es durch eigene Selbstmordgedanken, -versuche, oder gefährdete Angehörige. Bis 2015 ist der Anteil auf 65 Prozent gestiegen.

Harald Kuhn versucht durch Zuhören und guten Rat den Menschen zu helfen – dafür wurde er ein halbes Jahr trainiert. Merkt er aber selbst, dass er überfordert ist, wendet er sich an die Profis beim AKL. Wenn Menschen akut suizidgefährdet sind, werden sie gar nicht erst an die ehrenamtlichen Helfer vermittelt. Manchmal ist das Eis einfach zu dünn. Die Begleitung durch Ehrenamtliche ist nur ein Standbein des Vereins. Vor allem hilft der AKL dabei, Menschen Orientierung zu geben, die nicht wissen, wohin mit ihren Sorgen. Für einige ist das Angebot wie geschaffen. Andere brauchen mehr: eine 24-Stunden-Betreuung oder medizinische Hilfe zum Beispiel. Dort liegen die Grenzen des Arbeitskreises.

Was die Pädagogin Gabriele Alberth betont, ist: Menschen, die versuchen, sich umzubringen, müssen nicht psychisch krank sein. Viele sind einfach nur mit ihrer Lebenssituation überfordert. Der aktuelle Jahresbericht des AKL zeigt: Die Gründe liegen vor allem in der Arbeitswelt und in Beziehungsproblemen. Am Ende sind es in drei von vier Fällen Männer, die keinen anderen Ausweg finden.Auch unter Jugendlichen ist Selbstmord immer noch die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Mit Aufklärung und Schulbesuchen will der AKL dagegen angehen. Er bietet zwei Programme für Schulen an. Unter anderem wird den Jugendlichen angeboten, einen Vormittag mit jemandem zu verbringen, der selbst schon Freitodgedanken hegte, vielleicht sogar einen Versuch unternahm oder schon in Psychiatrien war. Diese Menschen müssen ein dickes Fell beweisen, wenn sie von den Teenagern ausgequetscht werden. Doch genau das hemmungslose Nachfragen ist es, was den Schülern am Ende hilft, mit dem Thema umgehen zu können. „Wir beobachten dabei oft, wie die Schüler immer mutiger werden, schließlich Fragen stellen, die vorher für sie Tabu waren“, berichtet die Geschäftsführerin Ursula Strunk.

Insgesamt nimmt die Anzahl an Suiziden trotzdem ab. Das führt Strunk unter anderem auf ganz einfache Maßnahmen zurück, die in den vergangenen Jahren eher berücksichtigt wurden: Kliniken werden seltener an Bahngleisen gebaut, hoch konzentrierte Schmerzmittel sind aus Angst vor der Überdosis nur noch mit Rezept erhältlich. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich so die Zahl der Suizide halbiert.

Die Arbeit des AKL

Netzwerk: Die Arbeitskreise Leben haben landesweit ein großes Netzwerk mit zehn Standorten aufgebaut. Der AKL Nürtingen-Kirchheim, mit Büros in beiden Städten, ist für den gesamten Landkreis Esslingen zuständig. Die meisten Klienten kommen aber aus dem Raum Nürtingen. Aufgaben: Die Beratungsstellen des AKL sehen sich als Einrichtung der Suizidprävention. Im Gegensatz zur Betreuung beim Arzt, werden die Klienten nicht medizinisch behandelt, und es wird auch keine Therapie entwickelt. Oft springt der AKL zur Überbrückung ein, da er flexibler ist. Finanzierung: Der lokale AKL finanziert sich zu 43  Prozent aus eigenen Mitteln, das heißt Spenden, Bußgeldern und Stiftungsgeldern. Zu 57 Prozent wird der AKL durch öffentliche und kommunale Mittel von Land, Kreis und den Städten Kirchheim und Nürtingen unterstützt. mona