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Der Engel fliegt nicht mehr zu Laura

Eltern sind empört, weil ihre Erinnerungsgegenstände am Grab für tot geborene Kinder fehlen

In Kirchheim gibt es ein besonderes Grab auf dem Alten Friedhof: Zum einen liegen dort Opfer eines Luftangriffs vom April 1945 – überwiegend Kinder. Zum anderen liegen dort Kinder, die nicht lebendig zur Welt kamen – Totgeburten. Dafür, dass die Stadt dieses Grab kürzlich umgestalten ließ, fehlt vielen Eltern das Verständnis.

Im Vordergrund ist das Kindergrab auf dem Alten Friedhof in Kirchheim zu sehen, in dem einerseits Kriegsopfer und andererseits t
Im Vordergrund ist das Kindergrab auf dem Alten Friedhof in Kirchheim zu sehen, in dem einerseits Kriegsopfer und andererseits tot geborene Kinder bestattet sind. Nach den Vorstellungen der Stadt sollten möglichst nur Blumen und die beiden Gedenksteine das Grab schmücken.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Daniela S. hatte sich vor sieben Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Florian schweren Herzens dazu durchgerungen, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden: Ihre Tochter Laura wäre mit schwersten Behinderungen zur Welt gekommen. Ausschlaggebend für den Schwangerschaftsabbruch war vor allem die Tatsache, dass das Mädchen mit großer Wahrscheinlichkeit noch im Mutterleib gestorben wäre. Kaltherzigkeit oder mangelnde Liebe zum kranken Kind kann man den Eltern nicht vorwerfen: Bis heute trauern sie um ihre Tochter und besuchen das Grab in Kirchheim – gemeinsam mit den beiden Jungs, die sie inzwischen haben. Der eine ist drei Jahre alt, der andere wird bald sechs.

Vor wenigen Wochen hat sich aber am Ritual des Friedhofsgangs etwas Entscheidendes geändert: Das Gemeinschaftsgrab, in dem seit 15 Jahren tot geborene Kinder bestattet werden, war plötzlich leergeräumt. An der einen Seite wächst jetzt eine dichte Hecke, und die ganze Grabfläche ist neu bepflanzt worden. Persönliche Gegenstände, die die Eltern dort abgelegt hatten, fehlten.

Daniela S. reagiert darauf mit völligem Unverständnis: „Sieben Jahre lang hat sich keiner darüber beschwert“, sagt sie. Und jetzt sei von einem Tag auf den anderen alles abgeräumt worden. „Wir haben gleich nach der Beerdigung einen Engel auf das Grab gestellt. Der ist jetzt weg, ohne Vorankündigung.“ Zwar habe der Engel keinen besonderen materiellen Wert gehabt, dafür aber einen großen ideellen Wert. Er war eine wichtige Verbindung zur toten Tochter.

Die Gegenstände, die die vielen Eltern auf dem Grab niedergelegt hatten, seien zwar in zwei Boxen gekommen, und jeder habe seine eigenen Erinnerungsstücke mitnehmen können. Aber Daniela und Florian S. haben ihren Engel nicht mehr gefunden, die Verbindung zu Laura ist damit ein Stück weit abgerissen.

Auf telefonische Nachfrage bei der Stadtverwaltung hat Daniela S. erfahren, dass die Stadt das Grab kostenlos zur Verfügung stelle und dass da nicht jeder einfach alles so machen könne, wie er wolle. So sehr sie das grundsätzlich versteht, kann sie es doch für sich nicht nachvollziehen: „Wenn was kaputt war, was wir da draufgestellt haben, dann haben wir es selber wieder weggeräumt – auch verwelkte Blumen oder abgebrannte Lichter.“

Einen weiteren Hinweis, den sie beim Telefonat erhalten hat, kann sie überhaupt nicht nachvollziehen: „Es hieß, dass ich mein Kind ja in einem Einzelgrab hätte bestatten lassen können. Da hätte ich dann draufstellen können, was ich wolle. Aber das wäre gar nicht möglich gewesen. Ich habe damals ja keinen Totenschein bekommen, und ohne Totenschein gibt es auch kein eigenes Grab.“

Daniela S. will nicht undankbar erscheinen. Sie freut sich, dass es überhaupt ein Grab gibt, an das sie gehen kann. Noch heute erinnert sie sich gerne zurück an die Bestattungsfeier, für alle Kinder aus Kirchheim und Umgebung, die im Jahr 2008 tot zur Welt gekommen waren. Die würdevolle Zeremonie hat sie beeindruckt. Und das wirkt bis heute nach: „Man hatte das Gefühl, die Kinder werden richtig wertgeschätzt.“

Manche Eltern gehen nicht mehr so oft an das Grab. Für andere aber, wie eben Daniela und Florian S., ist der Friedhofsbesuch auch nach sieben Jahren ein wichtiger Teil des Lebens. Zwei Termine sind sogar obligatorisch jedes Jahr: Lauras Geburtstag, der gleichzeitig ihr Todestag war, und der Jahrestag der Bestattung.

Doch nun ist ihnen die Wertschätzung abhandengekommen. Sie hätten sich mehr Information gewünscht, bevor alles weggeräumt wird. Beispielsweise durch ein Hinweisschild am Grab, das ein paar Wochen vorher schon auf die anstehende Änderung aufmerksam gemacht hätte. Und für die Zukunft wünschen sie sich, dass wenigstens noch eine kleinere Stelle übrig bleibt, an der sie Blumen niederlegen oder eine Kerze aufstellen können – wenigstens an den beiden wichtigen Jahrestagen.

Die „Patina“ der SpielzeugautosKommentar

Persönliche Bedürfnisse und allgemeine Belange lassen sich oft nur schwer miteinander in Einklang bringen. Überaus persönlich sind die Bedürfnisse, die Menschen entwickeln, wenn es darum geht, Gräber zu schmücken – insbesondere Kindergräber. Auch für Kinder, die gar nicht lebendig geboren wurden, haben Eltern diese Bedürfnisse. Wenn nach einigen Jahren Hunderte von Eltern einen persönlichen Bezug zur selben Grabfläche haben, dann liegen dort im Lauf der Zeit Tausende von Gegenständen.

Jeder einzelne Gegenstand hat seinen Sinn und seine tiefere Bedeutung: für diejenigen, die ihn dort abgelegt haben. Der „Zahn der Zeit“ nagt aber irgendwann an den vielen Spielzeugautos, Engelfiguren oder Gedenksteinen. Für die Eltern ist das allenfalls eine „Patina“, die sie wehmütig macht, weil schon so viel Zeit verstrichen ist seit der Bestattung des kleinen Lebewesens, das doch nie leben durfte außerhalb des Mutterleibs. Und deshalb ist dieser Gegenstand – trotz seiner Unansehnlichkeit – besonders wichtig, weil er eben von Anfang an auf diesem Grab liegt.

Wer die Sache als Unbeteiligter betrachtet, kann dagegen schnell auf den Gedanken kommen, dass man da „mal aufräumen müsste“. Aber es ist dann nicht unbedingt der richtige Weg, wirklich gleich alles abzuräumen. Eine schriftliche Information am Rand des Grabfelds wäre sicher eine Möglichkeit gewesen, über ein paar Wochen hinweg alle Eltern zu „erreichen“, die das Grab nach wie vor regelmäßig besuchen.

Jetzt, nachdem der „Kahlschlag“ einmal erfolgt ist, geht es um ein sorgfältiges Austarieren der Interessen: Die Stadt täte gut daran, das Grab zu pflegen, es aber nicht peinlichst genau sauber zu halten. Und die Eltern sollten – im eigenen Interesse – nicht zu viel dort ablegen, keine eigenen Büsche pflanzen und den einen oder anderen Gegenstand selbst entfernen, bevor er allzu unansehnlich geworden ist.ANDREAS VOLZ