Weilheim · Lenningen · Umland

Hier laufen alle Fäden zusammen

Handwerk Weben ist Kulturgeschichte. Heute noch sitzen Menschen hinter dem Webstuhl. Auch für Monika Lindner ist das Weben mehr als nur ein Hobby. Das Handwerk hat die Lindorferin von der Pike auf gelernt. Von Daniela Haußmann

Hier laufen alle Fäden zusammen
Hier laufen alle Fäden zusammen

Wer die Türschwelle im Obergeschoss von Monika Lindners Wohnhaus überschreitet, kommt ins Staunen. Vor einer Fachwerkwand reihen sich vier Webstühle, ein Spinnrad und Garnrollen in unzähligen Farben wohl sortiert aneinander. Der Gedanke an ein Museum kommt auf. Doch da, wo der eine oder andere im ersten Moment eine Sammelleidenschaft für alte mechanische Vorrichtungen zur Gewebeherstellung vermutet, wird Tag für Tag fleißig gesponnen und gewoben. Schals, Textilien für Möbel, Teppiche aller Art, Hand- und Geschirrtücher, Tisch-, Woll- und Tagesdecken – seit vielen Jahrzehnten führt Monika Lindner Auftragsarbeiten für Privatleute aus.

Das Weben ist für die 69-Jährige weder Kunst noch Hobby. „Es ist ein Handwerk“, das ihr in die Wiege gelegt wurde. Ihre Mutter betrieb nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Weberei. „Für Geschäfte stellte sie Textilien her und in Kooperation mit dem Maler Hans Gottfried von Stockhausen Bildgewebe für Kirchen“, erzählt Monika Lindner, die mit zwei der Webstühle, an denen sie arbeitet, aufgewachsen ist. „Sie gehörten meiner Mutter und sind mindestens genauso alt wie ich“, berichtet die 69-Jährige, die 1984 die Meisterprüfung in einem der ältesten Handwerke der Menschheitsgeschichte ablegte.

Das Kunsthandwerk des Webens gibt es seit 32 000 Jahren. Hölzerne Webrahmen und einfache Webstühle gab es bereits in der Jungsteinzeit. Die ersten Webtechniken konnten Forscher anhand von Wandmalereien indirekt für das 7. Jahrtausend vor Christus nachweisen. Der erste mechanische Webstuhl wurde 1784 von Edmond Cartwright entwickelt. Bahnbrechend war allerdings erst der von Joseph-Marie Jacquard im Jahr 1805 vorgestellte Jacquard-Webstuhl. Er funktionierte mit Lochstreifen, die Informationen über die zu webenden Muster enthielten. Nadeln tasteten die Streifen ab. Überall dort, wo sich ein Loch auf dem Streifen befand, wurde der Faden gehoben, dort wo sich keines befand, wurde der Faden gesenkt.

Die beiden Informationen reichten aus, um großflächige Muster herzustellen. Diese frühe und einfache Form der Digitalisierung hat die Weberei revolutioniert und einen nachhaltigen Beitrag zur heutigen Automatisierung geleistet. Die Kehrseite: Cartwrights und Jacquards Kons­truktionen kosteten zahlreichen Webern den Arbeitsplatz. Sie waren damit einer der ersten Berufsstände, die die negativen Folgen der Industrialisierung am eigenen Leib zu spüren bekamen. Ein Thema, das Gerhard Hauptmann in seinem Drama „Die Weber“ darstellte.

Mit Lochstreifen arbeitet Monika Lindner nicht. Wenn die Lindorferin an ihrem Webstuhl in die Pedale tritt werden einzelne Kettfäden, die waagerecht aufgespannt sind, angehoben und abgesenkt. Der Zwischenraum, der dabei zwischen den Kettfäden entsteht, wird als Fach bezeichnet. Anschließend zieht Lindner an einer Schnur und das Webschiffchen, das Schützen genannt wird, schießt über eine Laufbahn hin und her. Von einer Spule, die sich im Inneren des Schützen befindet, wird der Faden so waagerecht in das Fach geschossen. Aber auch große oder komplexe Muster kann Monika Lindner herstellen. Dazu muss sie nur einige Änderungen am Webstuhl vornehmen.

„Bei einfachen Mustern brauche ich eine Stunde für einen dreiviertel Meter, bei aufwendigen Arbeiten, wie einem Bildgewebe, benötige ich für den Quadratmeter rund 100 Stunden“, sagt die Lindorfer Weberin. Ob Baumwolle, Seide, Kaschmir, Merino-, Mohair- oder Alpakawolle – viele Naturfasern lassen sich auf dem Webstuhl zu Textilien verarbeiten. Am Spinnrad stellt Monika Lindner aus unversponnenem Flachs den Faden her, den sie später für Bildgewebe einsetzt. „Dadurch erhält der Faden eine ganz besondere, grobe Struktur, die zusammen mit den feinen, glänzenden Seiden- und Leinenfäden, die in der Industrie hergestellt werden, Bildgeweben einen individuellen Charakter verleihen“, so Lindner. Die 69-Jährige bedauert allerdings, dass der Stellenwert der Weberei und die Wertschätzung für die handgearbeiteten Produkte heutzutage nicht sonderlich hoch ausgeprägt ist.

„Ich kann deshalb niemandem empfehlen den Beruf zu lernen“, sagt die Weberin, die ihre Arbeiten schon bundesweit in Ausstellungen präsentiert und zahlreiche Preise dafür erhalten hat. Anfang 2016 nahm das derzeit wichtigste Webereimuseum Europas, das Centralne Muzeum Wlokiennictwa im polnischen Lodz, ein Bildgewebe der 69-Jährigen in seine zeitgenössische Sammlung auf. – Für Lindner eine besondere Ehre.

„Die Webstühle gehörten meiner Mutter und sind mindestens genauso alt wie ich.

Monika Lindner

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