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Ja zur Integration – Nein zur Zahl 96

Diskussionen im Lindorfer Ortschaftsrat über die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen

Nachspiel in Lindorf: Eine Woche nach der Bürgerinformation zur geplanten Anschlussunterbringung von Flüchtlingen auf dem alten Dreschschuppenplatz bestimmte das Thema auch die Sitzung des Ortschaftsrats. Außerdem haben Lindorfer Bürger inzwischen Unterschriften gesammelt. Allgemeiner Tenor: „Flüchtlinge ja, aber nur 24 bis 36 und keine 96 plus x“.

Die Stadt Kirchheim plant, auf dem Lindorfer Dreschplatz (oben) vier Gebäude für 96 Flüchtlinge zu erstellen. Das sorgt für viel
Die Stadt Kirchheim plant, auf dem Lindorfer Dreschplatz (oben) vier Gebäude für 96 Flüchtlinge zu erstellen. Das sorgt für viel Diskussionsstoff im Ortschaftsrat (Bild unten).Fotos: Carsten Riedl¿/¿Ralf Just

Kirchheim. Im überfüllten Sitzungssaal des Lindorfer Rathauses nannte Ortsvorsteher Stefan Würtele zunächst einmal aktuelle Zahlen und Prognosen: Von den 3 000 Flüchtlingen, für die die Kommunen im Kreis Esslingen 2016 eine Anschlussunterbringung bereitstellen müssen, kämen 231 nach Kirchheim, was exakt dem Verteilerschlüssel von 7,7 Prozent entspricht. Er selbst rechne für 2017 mit einem Anstieg auf gut 6 000 im Landkreis, was dann für Kirchheim wohl eine Zahl von mindestens 500 Personen bedeute.

Für ihren Ortsteil Lindorf plane die Stadt Kirchheim nun, auf dem alten Dresch- oder auch Dreschschuppenplatz insgesamt vier zweistöckige Flachdachgebäude erstellen zu lassen. In jedem Gebäude verteilen sich zwölf Zimmer auf vier Wohnungen. Dabei gelte das ganz normale Baurecht, sowohl im Blick auf die Energieeinsparverordnung als auch auf die Anzahl der Stellplätze, die entlang der Hardtstraße geplant sind.

Wenn jedes Zimmer in den vier Wohnblocks mit zwei Personen belegt wird, ergibt das rein rechnerisch einen Zuzug von 96 Flüchtlingen an einer einzigen Stelle in Lindorf. Genau an dieser Zahl machen die Lindorfer ihre Kritik fest. Klaus Pesl, Vorsitzender der Fraktion Wählervereinigung Lindorf / Lindorfer Bürgerliste, sagte in der Ortschaftsratssitzung: „Ich stehe dazu, 30 Menschen in Lindorf aufzunehmen und ihnen hier eine Heimat zu geben.“ Er selbst werde sich aktiv an der Integration beteiligen. 96 Flüchtlinge dagegen seien bei einem Ort wie Lindorf mit „1 500 Seelen“ dann doch „etwas heftig“. Klaus Pesl fürchtet, dass dadurch „ein Dorf im Dorf“ entstehen könnte.

Den Dreschplatz hält er für geeignet, um dort beispielsweise Wohnraum für junge Familien zu schaffen. Ein Gebäude, um 30 Flüchtlinge unterzubringen, ließe sich aus seiner Sicht besser auf einem anderen städtischen Grundstück an der Ötlinger Straße erstellen. Ein Antrag seiner Fraktion sah vor, genau diesen Alternativstandort zu überprüfen. Überdies beantragte er, mit Eigentümern zu verhandeln, die leerstehende Wohnungen und Gebäude in Lindorf für die Anschlussunterbringung zur Verfügung stellen könnten.

Auch Albrecht Ellwanger, der Fraktionsvorsitzende der „unabhängigen Liste Lindorf“ im Ortschaftsrat, sieht es „als Selbstverständlichkeit an, dass im Rahmen der Anschlussunterbringungspflicht von Flüchtlingen und Asylbewerbern ein Teil dieser Menschen auch in Lindorf untergebracht wird“. Allerdings glaubt er nicht, „dass Lindorf als kleinster Teilort mit teilweise fehlender Infrastruktur sowie als einziger Teilort ohne Sozialarbeit hier einen überproportional hohen Beitrag leisten kann und muss“. Er fürchtet, dass die Integration von 96 Flüchtlingen aufgrund der unverhältnismäßig hohen Zahl misslingen könnte.

Auch eine Initiative außerhalb des Ortschaftsrats hat sich inzwischen auf den Weg gemacht, um Unterschriften zu sammeln. 678 Unterschriften sind zusammengekommen, die sich ebenfalls für „eine gelungene Integration durch eine geringere Anzahl an Personen“ einsetzen. Die Unterschriften sollen im Lauf der nächsten Tage an Kirchheims Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker übergeben werden.

Auch in diesem Fall geht es darum, dass 24 bis 36 Flüchtlinge als eine Zahl angesehen wird, die die Dorfgemeinschaft in Lindorf „schaffen“ kann. Eine Zahl von 96 + x dagegen so schnell wie möglich in Lindorf unterzubringen, hält Ulrich Kreher, einer der Initiatoren, für eine „Hauruck-Aktion“, die dazu führen könnte, „über Generationen hinweg einen kleinen Stadtteil zu zerschlagen“.

Dr. Heike Schad, eine weitere Initiatorin der Unterschriftenliste, hofft, dass sich die Alternativlösung Klaus Pesls verwirklichen lässt, für die sich der Ortschaftsrat in der Abstimmung auch ausgesprochen hat. Sollte stattdessen das eine Haus, das die Lindorfer für machbar halten, auf dem Dreschplatz entstehen, dann fürchtet sie, dass es sich dabei um den berühmten kleinen Finger handelt, den man gibt: „Am Ende stehen dann auch die übrigen drei Häuser auf dem Dreschplatz.“ Auch Heike Schad betont im Gespräch: „Wir wollen die Leute integrieren, die zu uns kommen, schaffen aber die große Zahl nicht.“

Entscheiden wird am Ende übrigens der Kirchheimer Gemeinderat. Der Ortschaftsrat Lindorf kann lediglich eine Empfehlung an den Gemeinderat weitergeben.

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Was ist das rechte Maß?Kommentar

Eins muss man ihnen lassen: Sie argumentieren geschickt, die Lindorfer. Sie wettern nicht etwa unbeholfen gegen Überfremdung, sie schüren keine Vorurteile und sie stellen die Flüchtlinge auch nicht unter irgendeinen Generalverdacht. Sie sagen, dass sie ihren Beitrag zur Integration leisten wollen, und bieten freiwillig an, sich für ihre „Neubürger“ zu engagieren.

Das einzige Problem, das sie haben, ist die Unverhältnismäßigkeit, und da haben sie durchaus recht: Fast hundert bleibeberechtigte Flüchtlinge zu rund 1 500 Einwohnern – das würde bedeuten, dass von künftig 1 600 Lindorfern 6,25 Prozent Flüchtlinge wären, die es zu integrieren gilt. Bei der Zahl von etwa 30 Flüchtlingen, die die Lindorfer für „schaffbar“ halten, würde diese Prozentzahl bei knapp unter zwei liegen. Auch das wäre bereits Herausforderung genug. Und die Einwohner des kleinsten Kirchheimer Teilorts sind durchaus dafür zu loben, dass sie sich zutrauen, diese Herausforderung anzunehmen.

Die Frage ist nur: Wo soll Kirchheim die Flüchtlinge unterbringen, für die 2016 und in den folgenden Jahren Anschlussunterkünfte bereitzustellen sind? Sollten sich die Zahlen in kürzester Zeit verdreifachen – was nicht unrealistisch ist –, dann wären die Lindorfer schon in wenigen Monaten statt bei 30 tatsächlich bei 90 Menschen. Und die müssten sie aufnehmen, ob sie wollen oder nicht.

Wenn sie aber zurecht argumentieren, dass die Integrationsleistung in so kurzer Zeit für 96 Personen nicht zu schaffen ist, dann droht die gesamte deutsche Flüchtlingspolitik an die Wand zu fahren. Lindorf ist ja kein Einzelfall. Die Integration muss in ganz Deutschland gelingen. Deshalb müssen auch Politiker in Bund und Ländern über die Verhältnismäßigkeit der Zahlen nachdenken – und darüber, was sich „schaffen“ lässt und was nicht.ANDREAS VOLZ