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Stadt im Schock

Stadt im Schock
Stadt im Schock

Dienstagmorgen. Im Bus herrscht gedrückte Stimmung. Es gibt nur ein Thema. Ich stelle mir vor, dass die Leute in dem Zug, in dem das Attentat geschah, genauso wie die Menschen

hier im Bus saßen, ganz normal. Ich bin nicht die Einzige, die diesen Gedanken hat. Gedämpfte Gespräche werden mit Kopfschütteln geführt. Würzburg ist nicht panisch oder verängstigt – eher sprachlos, ungläubig und fassungslos.

Was ist passiert? Zwölf Stunden zuvor: Es sind nicht die Nachrichten, die mich kurz vor dem Einschlafen darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmt. Es ist eine Würzburger Flohmarkt-Facebook-Gruppe, in der plötzlich jemand fragt, was da los sei in Heidingsfeld, es seien so viele Sirenen zu hören. Vermutlich etwas ganz Harmloses. Ich will den Post schon wegscrollen, aber plötzlich leuchtet eine Antwort unter der Frage auf. Ich halte inne. Jemand berichtet, gerade von einer Freundin eine Nachricht erhalten zu haben. Da sei ein Mann in der Bahn – mit einer Axt. Eine  Axt? Die Vorstellung ist so brutal! Ich schlucke - vermutlich synchron mit Dutzenden anderen, die das in derselben Sekunde lesen. Viele kommentieren schon, jedoch hauptsächlich mit mehr Fragen. Sofort flammen hitzige Debatten auf: Jemand meint, dass alles besser wäre, wenn man, wie in Amerika, Waffen tragen dürfte. Er erntet viel Beifall, während andere Skepsis äußern.

Ich ahne, was sich später bewahrheiten wird: Diskussionen wie diese werden noch die nächsten Tage über ganz Würzburg beschäftigen. Jedes Detail wird emotional ausdiskutiert.Ich checke die lokalen Nachrichtenagenturen – noch nichts. Die einfache Frage nach den Sirenen in Heidingsfeld entwickelt sich in der Facebook-Gruppe zu einem bizarren Livestream, der gefühlt aktueller ist als jede andere Quelle. Die Würzburger informieren sich gegenseitig, wer was gerade gemeldet hat.

Leider beinhalten die Dutzenden Kommentare, die ich nägelkauend verfolge, nicht nur Fakten. Die Gerüchteküche kocht hoch und vermischt sich mit den wenigen soliden Informationen. Es seien 25 bis 30 Verletzte, heißt es, und mein Herz rutscht in die Hose. Ist das etwas Größeres? Das Wort „Amoklauf“ fällt, und in meinem Kopf spielen sich blitzartig Bilder aus Paris und Brüssel ab. Ist das organisiert? Gibt es vielleicht andere Stellen in der Stadt, an denen etwas passiert, von denen man nur noch nicht weiß? Irgendwie ist das ganze abstrakt, ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade so etwas nicht weit von meiner Wohnung passiert. Ich bin nicht wirklich verängstigt. Das ist Würzburg, klar, größer als Kirchheim, aber kein Paris, Berlin oder London, wo man Anschläge vielleicht eher erwarten würde.

Ich rufe meine Mutter zu Hause an und sage ihr, dass es mir gut geht. Sie fragt irritiert wieso. Danach herrscht schockierte Stille in der Leitung. Erst jetzt, als ich es jemand anderem erzähle, wird mir wirklich bewusst, was da gerade los ist. Leise höre ich irgendwo in der Stadt eine Sirene. Sollte ich jemanden anrufen, jemanden warnen, nicht nach draußen zu gehen? Die Freundin, die direkt in Heidingsfeld gewohnt hat, ist Gott sei Dank vor Kurzem umgezogen. Kenne ich sonst irgendwen, der gerade Grund hätte, dort zu sein? Ich sage mir, dass ich jetzt sowieso nicht helfen kann. Falls jemand dort ist, den ich kenne, werde ich es erfahren. Also warte ich und hoffe, keine Schreckensnachricht zu erhalten. Ich aktualisiere alle paar Sekunden meinen Browser. Langsam trudeln Informationen ein. Das ist beruhigend. Nichts ist schlimmer als nicht Bescheid zu wissen. Also doch nicht so viele Verletzte, ein Glück. Der Täter wurde unschädlich gemacht. Keine anhaltende Gefahr mehr. Unruhig lege ich mich schlafen.

Mein erster Griff am nächsten Morgen geht zum Handy. Endlich gibt es Fakten. Ein 17-jähriger Junge aus Afghanistan war es. Ich bin schockiert: Ein Kind. Was muss dieser Junge erlebt haben, wie kam er auf eine so grausame, unmenschliche Idee? Die Diskussionen in Facebook drehen sich allerdings nicht um das Alter des Täters und auch nicht um seinen psychischen Zustand. Nur ein Thema beschäftigt die User: Es war ein Flüchtling. Hoffentlich brennen hier in der Gegend in den nächsten Tagen nicht die Flüchtlingsheime – es wäre nicht das erste Mal.