Lokale Kultur

„Rache der Sprache ist das Gedicht“

Experimentelle Lyrik zum Abschluss der Reihe „Text & Töne“ in der Kirchheimer Stadtbücherei

Kirchheim. Wenn zerzauste Worte und umgestellte Buchstaben den Satzbau zum Einstürzen bringen, dann ist der Dichter Ernst Jandl, der schon in der Nazizeit die „Ehrfurcht vor dem deutschen Wort“ verloren hatte, nicht fern.

Nah dran auch die Gedichte Jandls an der Absurdität. Weniger bekannt hingegen ein anderer futuristischer Wortakrobat, Daniil Charms. Der russische Dichter, dessen dadaistische Burlesken und clownesker Existenzialismus paradoxe Szenen heraufbeschwört, er war in keinerlei Hinsicht systemkonform. Charms Werk passte nicht in den Kanon des sozialistischen Realismus. Der Dritte im Bunde der Wortrevolutionäre, François Villon, lässt seine intensiven, dramatischen Balladen verschmelzen mit den schrägen, schrillen Lautgedichten eines Jandl und den grotesken, absurden Kurzgeschichten von Charms zu einer spannungsgeladenen „unruhigen“ Erzählwelt.

Ein bühnengerechter Literaturabend in der Kirchheimer Stadtbücherei, bravourös in Szene gesetzt von dem Stuttgarter Schauspieler Clemens Schäfer, der begleitet wurde vom Jazz-Akkordeonspieler Tobias Escher. Dieser verlieh mit seiner kreativen und spontanen Improvisationskunst den Texten auf geniale Weise musikalische Flügel.

Die Texte der Autoren reihte Clemens Schäfer fantastisch in ihrer abstrusen Schönheit gleichsam übergangslos aneinander. Ein Literaturabend, der in seiner Gesamtheit betrachtet an die legendären konzertanten Lesungen von Ernst Jandl erinnert. Jamsessions mit magischen Beschwörungen, die dem interessierten Zuhörer zuweilen den Atem raubten. „Die Rache der Sprache ist das Gedicht“ – eines der letzten Gedichte, die Jandl zu Papier brachte. Der Rache des Gedichts verdankt Jandl letztlich seine Popularität, wer kennt nicht die Zeilen von Ottos kotzendem Mops.

Hingegen blieb Daniil Charms, der im Jahr 1956 offiziell rehabilitiert wurde, nahezu vergessen. In der Endphase des Kommunismus wurde Charms zur Kult- und Projektionsfigur einer sich neu erfindenden literarischen Avantgarde in Russland. Charms glaubte an die Kraft der Worte, „entsprechend sollen Gedichte gefälligst so beschaffen sein, dass, wenn man sie gegen ein Fenster schmeißt, das Glas springt“.

In Charms Kurzgeschichten stolpern die Figuren erbarmungslos durch die Idiotie eines sich dahinschleppenden Alltags. Meist nimmt es ein böses Ende, Menschen fallen aus dem Fenster oder werden verprügelt. „Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel und zerschellte. Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau und begann, auf die Tote hinabzuschauen, aber aus übergroßer Neugierde fiel auch sie aus dem Fenster, fiel und zerschellte. Dann fiel die dritte alte Frau aus dem Fenster, dann die vierte, dann die fünfte. Als die sechste alte Frau hinausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen, und ging auf den Malcevskij-Markt, wo man angeblich einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte.“ Literarisch verschlüsselte Fragmente des stalinistischen Terrors. Durch Charms‘ absurde Komik wird dem Terror endgültig seine Macht entzogen.

Auf die Obrigkeit hatte Jahrhunderte zuvor in seinen Balladen und Liedern auch François Villon gepfiffen. Nie zuvor – und bis heute wohl auch kaum danach – sind in der französischen Dichtung Liebe und Hass, Tod und Vergänglichkeit, Hunger und Armut, Laster und Ausschweifung so unmittelbar, frech, frisch, derb und humorvoll zu Poesie geworden.

Da durfte zum Abschluss die Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau freilich nicht fehlen, „ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir die Lungen wund nach deinem weißen Leib, du Weib“. So bleibt nur noch eins zu sagen – frei nach Jandl: „mit 5 Polzent ins Palrament“ –: Villon, Charms und Jandl haben mit 100 „Polzent“ nicht nur den Literaturhimmel erobert, sondern auch eine aufmerksame Zuhörerschaft.