Lokale Kultur

Das „Dennoch-Vertrauen“

Ilka Scheidgen las aus ihrer Biografie über Hilde Domin im Lenninger Schlössle

Lenningen. Persönliches und Politisches scheinen in Hilde Domins Werk untrennbar mit dem genuin Poetischen verbunden. Davon verschafften sich rund 30 Interessierte

in der vollen Oberlenninger Gemeindebücherei einen Eindruck. Ilka Scheidgen, die die Lyrikerin in deren letzten Lebensjahrzehnten begleitet hat, las dort aus ihrer Domin-Biografie „Dichterin des Dennoch“.

Angefangen bei der Kindheit im bürgerlich-jüdischen Hause Löwenstein in Köln bis zum Tod der Schriftstellerin 2006, erzählte Scheidgen die zentralen Stationen aus Domins Leben nach. Die Kindheitsjahre, kaum religiös geprägt, wohl aber durch christliche Feiertage gegliedert, müssen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben: In der bedingungslosen Annahme durch die Eltern habe sie das Urvertrauen erfahren, das ihre Weltsicht und ihr Schaffen dauerhaft prägen sollte.

Domin erinnert sich: „Ich durfte alles. Ich durfte sogar die Wahrheit sagen. Nie musste ich lügen.“ Dass diese Rückschau durchaus nicht verklärter Ausdruck der vielen vergangenen Lebensjahrzehnte ist, macht Ilka Scheidgen konkret an Schlüsselworten und Themen der Domin‘schen Lyrik fest. Der Wunsch, Dinge „wahrhaftig“ – im Sinne der individuellen, persönlichen Wahrnehmung – zu benennen, sei stets ihr schriftstellerischer Antrieb gewesen. Ihren unverrückbaren Glauben an Menschen und Menschlichkeit bezeichnet Scheidgen angesichts der zeitgeschichtlichen Umstände der Biografie Domins als „Dennoch-Vertrauen“. Die Nähe, die die Autorin in ihrem Vortrag vermittelt, lässt dabei verzeihen, dass angesichts der stets herauszuhörenden Bewunderung, mit der sie Hilde Domin eine „Apologetin des Vertrauens“ nennt, selten kritische Distanz gewahrt wird.

Besonders mit kommentierend eingefügten Gedichten gelang es Scheidgen, die Oberlenninger Zuhörer zu bewegen. Dazu verleitete die eine oder andere Anekdote zum Schmunzeln und Weiterdenken: Auch wenn sich Hilde Domin mit den Jahren phasenweise von ihrem Ehemann Erwin Walter Palm entfremdete und dieser auf ihre ersten schriftstellerischen Ambitionen gar mit verärgertem Türenknallen reagierte, begann für sie bei der ersten Begegnung in der Heidelberger Uni-Mensa 1931 doch ein „Gespräch, das 56 Jahre lang währen sollte“.

Gemeinsam reiste das jüdische Paar erst nach Rom, wo ein Beamter bei der Heirat im Konservatorenpalast das Ehepaar Palm ausführlich aufklärte – und schließlich über die Pflichten einer Ehefrau. Über England ging es weiter in die Dominikanische Republik – dem Krieg und der Judenverfolgung davon, Stipendien und Lehraufträgen hinterher. Nach 22 Jahren im Exil und weiteren Jahren des ­Pendelns zwischen Spanien und Deutsch­land folgte 1960 endgültig die Rückkehr nach Heidelberg. Erst wenige Jahre zuvor hatte Hilde Domin als Mittvierzigerin mit dem Dichten begonnen. Im Wissen um die Verbrechen der NS-Zeit und mit der Nachricht vom Tod ihrer Mutter im amerikanischen Exil, wurde das Schreiben zum existenziellen, „verpflichtenden Geschenk“.

„Vor allem Dankbarkeit“ habe Domin dem Leben und ihrem Umfeld gegenüber stets empfunden. So wählte sie, zurück in Deutschland, ihren Künstlernamen nach dem Karibikstaat, der ihr lange Jahre Unterschlupf gewährt hatte. Optimismus und „Freude am Gebrauchtwerden“, zentrale Motive in ihrer Arbeit, sieht Ilka Scheidgen beispielhaft im Gedicht „Abel steh auf“, Domins – laut eigener Aussage – „letztem Wort“. Der Leitsatz „Steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen“ markiere die unbeirrbare Hoffnung auf und das Vertrauen in kommende, fremd gewährte Chancen.

Am 27. Juli wäre die Frau, die neunzigjährig noch den Gedichtband „Der Baum blüht trotzdem“ veröffentlichte, 105 Jahre alt geworden. Ein letztes Dennoch findet sich auf ihrem Heidelberger Grabstein: „Wir setzten den Fuß in die Luft / und sie trug.“ In Lenningen ist die umtriebige Lesereisende Domin – zur augenzwinkernden Überraschung Ilka Scheidgens – nie aufgetreten.

Trotzdem war an diesem Abend eine Ahnung der Schwerelosigkeit, die die Biografin an der Domin’schen Sprache so bewundert, klar zu spüren.