Lokalsport

„Ein Stück Freiheit im Alltag“

VfL-Trainerin Anja Hertle bietet im Dettinger Hallenbad einen Schwimmkurs für muslimische Frauen an

Im Bikini an den Strand, im knappen Badeanzug ins Hallenbad. Für die meisten Frauen hierzulande die normalste Sache der Welt. Muslimische Frauen, die ihren Glauben leben, stellt der Gang in ein öffentliches Bad vor hohe Hürden. Seit sieben Jahren schafft eine Privatinitiative in Kirchheim ­Abhilfe: Mit der Schwimm­stunde im geschützten Raum.

„Ein Stück Freiheit im Alltag“
„Ein Stück Freiheit im Alltag“

Kirchheim. Sie mag es nicht mehr hören. Das Gerede von Parallelgesellschaft und mangelndem Integrationswillen. Ahu Ileli ist 25 Jahre alt, spricht fließend deutsch mit schwäbischem Akzent und hat jenes Selbstbewusstsein, das viele ihrer deutschen Altersgenossinnen gerne hätten. Die intelligente junge Frau mit dem Kopftuch hat in Süddeutschland geheiratet, ist hier geboren und aufgewachsen – eine türkischstämmige Deutsche wie es politisch korrekt heißt. Am muslimischen Glauben hat die Mutter eines siebzehn Monate alten Sohnes festgehalten. Aus freien Stücken, weil allein sie es so wollte. Ins Schwimmbad gehen mit Freundinnen, zum Baden an den See, als junges Mädchen war das für Ahu Ileli völlig normal. Dann kam die Pubertät, die Entwicklung zur Frau und mit ihr hat sie beschlossen: Sie will das nicht mehr. Wenn andere sich in die Fluten stürzten, saß sie fortan bekleidet am Beckenrand, planschte mit den Füßen im Wasser und schaute zu. Die Freude am Schwimmen jedoch blieb. Vor wenigen Jahren hat sie sich deshalb einen Hotelurlaub in ihrer türkischen Heimat gegönnt. Dort gab es zwei Schwimmbäder – nach Geschlechtern getrennt.

Das Element Wasser erfahren, schwimmen oder schwimmen lernen, für viele muslimische Frauen türmen sich bei diesen Gedanken Berge auf. Dass es in Kirchheim und Umgebung heute Frauen gibt, die sich trotz solcher Barrieren einmal die Woche zur Schwimmstunde im Dettinger Hallenbad treffen, ist dem Zufall zu verdanken und einer Frau, der dies zur Herzensangelegenheit geworden ist: Anja Hertle ist seit vielen Jahren Schwimmtrainerin im VfL Kirchheim. Eine Sportlerin, die in jungen Jahren gelernt hat, mit Körperlichkeit umzugehen. Selbstbewusst und vor allem: ganz selbstverständlich. „Nach dem Training gemeinsam unter die Dusche zu gehen, ist für jeden, der Vereinssport betreibt, völlig normal“, sagt sie. Als die Mutter eines türkischen Schwimmschülers ihr eines Tages anvertraute, wie sehr sie sich wünsche, schwimmen zu lernen, wurde ihr zum ersten Mal klar, warum dies für viele muslimische Frauen nicht selbstverständlich ist. Der Schutz vor Männerblicken, Privatsphäre in Dusche und Umkleide, die Schamgefühlen gerecht wird und religiöse Tabus respektiert – Zu normalen Badezeiten in einem normalen Hallenbad ist so etwas nicht möglich. Den Wunsch empfand die Schwimmtrainerin spontan als Herausforderung.

Der Startschuss fiel im Oktober 2005 im Kirchheimer Hallenbad. Montagnachmittag war dort wegen Reinigungsarbeiten kein Badebetrieb. Ein knappes Zeitfenster von eineinhalb Stunden, aber immerhin. „Wir haben Schilder geschrieben und an die Tür gehängt,“ erzählt Anja Hertle, „um Überraschungsgästen vorzubeugen.“ Als Vereinstrainerin hatte sie zudem Schlüsselgewalt. Fünf Frauen erfuhren davon und zeigten sofort Inte­resse. Als man sich zum ersten Mal traf, standen zwölf vor der Tür. „Die meisten waren das erste Mal überhaupt im Wasser“, sagt Anja Hertle. „Zu sehen, wie sie das Wasser für sich erschlossen und dabei auch Ängste überwanden, war eine tolle Erfahrung.“

Schnell war klar, dass die Treffen mit Beginn der Sommerpause nicht enden sollten. Im Oktober, direkt nach Ramadan, wuchs der Kurs auf 20 Teilnehmerinnen an. Zum ersten Mal gab es zwei Gruppen, für Anfänger und für Fortgeschrittene. Das Interesse war geweckt, doch was viel wichtiger war: Die Frauen fassten Vertrauen. In ihrer Dettinger Trainerkollegin Claudia Platzer fand die Initiatorin eine Mitstreiterin, und drei Jahre später trafen sich 43 Frauen verschiedenster Herkunft einmal in der Woche zum Schwimmen. Anfangs wurde der Termin noch geheim gehalten, weil einige aus der Gruppe ohne das Wissen ihrer Männer daran teilnahmen. Inzwischen gibt es solche Probleme nicht mehr.

Viel dabei gelernt habe sie, sagt Anja Hertle über ihre gemeinsame Zeit mit den Frauen aus Bosnien, der Türkei, dem Libanon oder Tunesien. Sie weiß inzwischen, was ein „Burkini“ ist, mit dem die Frauen in ihrer Heimat zum Baden ans Meer gehen, und sie weiß, wie viel Modebewusstsein sich unter langen grauen Mänteln versteckt. Den Körper von den Knien bis über den Bauchnabel bedeckt, darauf hat eine Muslima nach der Religionslehre auch beim Bad zu achten. Ein Gesetz, das individuelle Lösungen geradezu provoziert. „Not macht eben erfinderisch“, meint Ahu Ileli mit einem Lächeln. Wie viel vertrauter der Umgang der Frauen untereinander ist, hat Anja Hertle besonders beeindruckt. „Da gibt es ein generationenübergreifendes Netzwerk, wie wir es unter Deutschen kaum mehr kennen,“ sagt sie. Gemeinsam hat die Gruppe einen riesigen Vorhang geschneidert, der den Badebereich vor neugierigen Blicken schützt. Das jüngste Mitglied ist sieben, das älteste 70 Jahre alt. Generationenkonflikt? Fehlanzeige. Man unterstützt sich gegenseitig, wo immer es geht.

Dann kam die Schließung des Kirchheimer Bades und die Zukunft der Gruppe schien plötzlich in Gefahr. Der gedrängte Zeitplan in Dettingen bot keine Nischen mehr, in denen man unter sich sein konnte. Nach intensiven Gesprächen und Unterstützung einer gewichtigen Mitstreiterin gelang es am Ende doch. Kirchheims Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker war daran gelegen, den Kurs am Leben zu halten. Das Zeitfenster ist kleiner geworden, die Gruppe auch. Dennoch stehen für die am 2. Oktober beginnende Saison erneut 26 Namen auf der Liste.

Meliha Novkinic ist einer von ihnen. Die 37-jährige Bosnierin ist seit Langem schon dabei. „Ein Stück Freiheit im Alltag,“ nennt sie die gemeinsame Stunde, zu der sie ihre Tochter Sara seit einem Jahr begleitet. Eine aufgeweckte 13-Jährige, die sich für Leichtathletik interessiert und als erfolgreiche Taekwondo-Kämpferin daheim Pokale hortet. Schwimmen hat sie im Verein gelernt, wie die meisten ihrer Altersgenossinnen, mit denen sie im Sommer ins Freibad geht. „Wir leben zu Hause unseren Glauben“, sagt Meliha Novkinic, „strenge Verbote für unsere Kinder gibt es aber nicht.“ Sara ist die einzige Muslima in ihrer Klasse und steht damit vor der Wahl: sich anpassen oder Respekt verschaffen mit dem, was ihr in die Wiege gelegt wurde. „Sie kommt jetzt in die Pubertät“, sagt ihre Mutter. „Eines Tages soll sie frei entscheiden, was sie will.“

Der Schwimmkurs für muslimische Frauen im VfL Kirchheim erhielt 2007 eine Nominierung für den Innovationspreis des Württembergischen Landessportbundes (WLSB) in der Kategorie „Konzepte zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.