Kurze Anläufe sind in einem so schnellen Sport wie dem Handball wichtig. Bei Günther Scheuring stellt sich die Frage, was zuerst da war. Offenheit und ehrliches Interesse, die ihm im Austausch mit seinen Mitmenschen selten mehr als zwei knappe Sätze abverlangen, um das Eis zu brechen oder der direkte Weg zum Tor. Ein Handballer ist er durch und durch. Von den Anfängen als Elfjähriger in seiner Geburtsstadt Esslingen bis zum Spätherbst seiner aktiven Zeit in Seniorenteams des VfL Kirchheim. Den großen Durchbruch hat er nie geschafft, auch wenn er mit lokalen Stars wie Enrico Wackershauser oder Thomas Wald Mitte der Neunziger im Halbfinale der Jungsenioren um den württembergischen Titel kämpfte.
Im Dezember wird Scheuring nun 70, und wenn er vom Handball erzählt, dann meint er das, wofür er in den zurück liegenden vier Jahrzehnten im Sport die meiste Zeit geopfert hat: das Amt des Schiedsrichters. Weit mehr als tausend Spiele hat er gepfiffen, die allermeisten für den VfL. Jetzt ist Schluss. Weil das Knie Probleme macht und weil er sich geschworen hat: „Mit Siebzig stehst du nicht mehr auf der Matte.“ Sein Unternehmen hat er schon vor Jahren abgewickelt, er kümmert sich ums Kulturprogramm in der Bastion und steht als Musiker selbst auf der Bühne. Eine Leere hinterlässt der Handball nicht, zumal er als Schiedsrichter dem Schulprojekt „Jugend trainiert für Olympia“ weiter die Treue halten will.
Während seiner vierzig Jahre in der schwarzen Zunft, sagt Scheuring, sei es darum gegangen, ein „fairer Mitspieler“ zu sein, Vierzig Jahre, in denen er mehr Freunde fand als üblicherweise in ein Leben passen. Seit jenem ersten Einsatz im Oktober 1976 in der Esslinger Schelztorhalle. Im Lokalkampf der Altherrenteams seines Stammvereins, der Turnerschaft aus Esslingen und dem Teilortklub TSV RSK standen damals altgediente Bundesliga-Cracks. Mittendrin ein Debütant, dem das Herz bis zu den Schläfen pochte. Es hätte gut gehen können, tat es aber nicht. „Die haben mich hinterher alles geheißen“, erinnert sich Scheuring und lacht. Er nahm die sechs Mark als Aufwandsentschädigung in Empfang und verschwand.
Das gab es so nie wieder. „Egal was war“, sagt er, „ich konnte hinterher noch jedem ins Gesicht schauen.“ Er ist ein Teamplayer, dem das Miteinander immer wichtiger war als der Erfolg. Und er gilt auf dem Spielfeld gerade deshalb als Autoritätsperson, weil er nie eine sein wollte. „Wenn du deine Sache ordentlich gemacht hast, wurdest du von den Mannschaften hinterher zum Essen ins Vereinsheim eingeladen.“ Schnell fügt er an: „Ich wurde oft eingeladen, weil ich einer von ihnen war.“ Weiter als bis zur Verbandsliga ist er trotzdem nie gekommen. Wegen des Berufs aber auch, weil ihm Karrieredenken im Sport nie wichtig war. „Um nach oben zu kommen, musst du mit den Wölfen heulen“, sagt Scheuring. „Das habe ich nie gemacht.“
Momente, die sich eingebrannt haben ins Gedächtnis gab es trotzdem genug. Wie im heiß umkämpften Lokalderby der Neunziger zwischen Geislingen und Altenstadt vor 1 200 Zuschauern in der Michelberghalle. Auch kritische Situationen gab es. Im entscheidenden Duell um den Verbandsliga-Aufstieg zwischen dem TSV Großheppach und dem SC Korb pfiff sein Partner in der Schlussekunde den alles entscheidenden Siebenmeter. „Da habe ich gewusst, das wird kein ruhiger Abend mehr,“ erinnert sich Scheuring.
Am 19. Februar um 13 Uhr wird er in der Nürtinger Eisenlohrhalle zum vermutlich letzten Mal ein Spiel anpfeifen. Ohne Wehmut geht er nicht. Vielleicht auch deshalb, weil sich seine Sicht auf den Sport von der vieler anderer unterscheidet. Dass die Stimmung in den Hallen aufgeheizter worden sei, dass Unparteiische Freiwild seien, dem widerspricht er energisch. Handball sei zweifellos schneller und körperbetonter geworden, sagt Günther Scheuring. „Aber auf dem Spielfeld geht es heute meist fairer zu als vor Jahrzehnten.“ Dass es dennoch immer schwerer wird, Schiedsrichter auf Jahre hinaus im Amt zu halten, hat für ihn einen anderen Grund: „Die Welt ist egoistischer geworden“, sagt Scheuring. „Dem Sport etwas von dem zurück zu geben, was man selbst als Geschenk betrachtet hat, ist eine Frage des Bewusstseins.“