Lokalsport

Olympia-Drama in drei Akten

Über den jähen Leistungseinbruch in Athen 2004 rätselt der frühere Weltklasse-Speerwerfer Peter Esenwein bis heute

Er ist 44 und ein echter Speerwurf-Methusalem: Schon seit 22 Jahren betreibt Peter Esenwein seinen Sport auf höchstem Niveau. Seinen Karriere-Höhepunkt erlebte der Rechberghausener mit der Olympia-Teilnahme 2004 in Athen. Mit viel Vorschusslorbeeren und als einer der fünf Weltjahresbesten war er angereist, ohne Medaille und nachdenklich über das deutsche Speerwerfer-Fiasko flog er zurück in die Heimat.

German Peter Esenwein does a throw in the qualifying round of the Javelin Throw in the Olympic stadium at the Athens 2004 Olympi
German Peter Esenwein does a throw in the qualifying round of the Javelin Throw in the Olympic stadium at the Athens 2004 Olympic Games, Thursday 26 August 2004. epa/keystone Fabrice Coffrini Leichtathltetik

Rechberghausen. Wenn am Samstagabend im Londoner Olympiastadion die weltbesten Speerwerfer um Gold, Silber und Bronze kämpfen, wird Peter Esenwein daheim gespannt vorm Fernseher sitzen. Die spannendste Frage ist gewesen, ob der 24-jährige Deutsche Matthias de Zordo, Weltmeister 2011 und mit erzielten 87,81 Metern bester Linkshänder aller Zeiten, dem aufgrund seiner Weltjahresbestleistung von 88,11 Metern favorisierten Tschechen Vitezslav Vesely bei der Medaillenvergabe in die Suppe spucken kann. Die Frage ist seit Mittwochabend beantwortet. Di Zordo kann nicht – in der Qualifikation machte er mit schmerzverzerrter Mine alle drei Würfe ungültig. Esenwein („es gibt noch andere Medaillenkandidaten“) sieht den Speerwurf-Wettbewerb als „völlig offen“ an. Gerne hätte der Routinier aus Rechberghausen, der mit 44 unvermindert zur nationalen Spitze zählt, auch daran teilgenommen. Sein Ehrgeiz ist der alte.

Doch das Leistungsdiagramm des 189 Zentimeter großen Modellathleten fiel zuletzt so ab, dass es bei den deutschen Meisterschaften in Bochum-Wattenscheid Mitte Juni lediglich zu Platz sechs und 73,15 Metern reichte. Damit blieb er rund 14 Meter unter seiner persönlichen Bestmarke von 87,20 Metern aus dem Jahre 2004. Die DM-Bilanz war enttäuschend, aber irgendwie auch absehbar gewesen: 2011 hatte er sich in der Sportklinik Stuttgart zwei Mal unters Messer legen müssen – erst wegen einer Beuger-, dann wegen einer Sprunggelenksverletzung. Nach den Operationen dauerte es Monate, bis sein Körper wieder voll belastbar war. Doch die Malaisen an Knie und Knöchel drückten empfindlich auf seine Leistungen in diesem Jahr: Die vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) geforderte Olympianorm von 82 Metern blieben in unerreichbarer Ferne.

Ein London-Ticket war für Rechberghausens prominentesten Einwohner deshalb nie ernsthaft ein Ziel. 2004, im Jahr der Olympischen Spiele in Athen, war alles ganz anders gewesen. Damals, mit 36, stieß er mit einem spektakulären Wurf über 87,20 Meter beim Pfingssportfest im saarländischen Rehlingen in die absolute Weltspitze vor – eine kleine Sensation, die für den Athleten auch ein Stück Genugtuung war. Denn Esenwein, der sich als überzeugter Autodidakt stets selbst trainiert hatte, anstatt sich von einem Heimtrainer in die Pflicht nehmen zu lassen, hatte bei manchem DLV-Funktionär damals den Ruf des Nonkonformisten. Nach Rehlingen kam der Verband an seinem ungeliebten Ausnahme-Werfer endgültig nicht mehr vorbei. Esenwein, die neue Nummer eins der Weltjahresbestenliste, flog zusammen mit dem WM-Dritten Boris Henry und dem Wattenscheider Christian Nikolay zu den Spielen nach Athen. Es war ein hochkarätiges Trio – eines, das scheinbar eine sichere Medaillenbank war.

Doch die Experten täuschten sich, wie man weiß. Esenwein, Henry und Nikolay rissen nichts: Keiner von ihnen kam ins Finale. Das Fiasko war einer Verkettung unglücklicher Umstände geschuldet. Henry, heutzutage Bundestrainer, hatte sich kurz vor der Qualifikation die Schulter ausgekugelt und musste die ganze Nacht über auf der örtlichen Krankenstation verbringen, Esenwein erwischte einen pechschwarzen Tag und schied als 21. in der Qualifikation ebenso vorzeitig aus dem Wettbewerb aus wie Nikolay. In der Hitze des mit 68 000 Besuchern gefüllten Athener Olympiastadions platzte Deutschlands Speerwurf-Traum.

Bis heute rätselt der Mann aus Rechberghausen über die Ursachen seiner Schwäche(n) am 28. August 2004. Drei Mal war er trotz leichter Steigerungen unter der geforderten Mindestweite von 82 Metern geblieben – am Ende fehlten ihm rund zweieinhalb Meter zum anvisierten Einzug ins Zwölfer-Finale. Als die Anzeigetafel aufleuchtete und die Hiobszahl vermeldete, trat erst einmal Schockstarre bei ihm ein. „Nach meinem letzten Wurf spürte ich totale Leere in mir“, blickt Esenwein zurück. Im Anschluss ging er gefrustet aus dem Stadion und mit Freunden etwas trinken, doch das verpasste Finale schwirrte später im Athletenappartement weiter durch seinen Kopf.

„Ich kann mir den Leistungseinbruch bis heute nicht erklären“, sagt Esenwein, „denn meine Körperwerte haben kurz vor dem Wettkampf ebenso gestimmt wie meine physische Verfassung.“ Und die psychische Verfassung? – „Ich war in Athen wirklich gut drauf“, antwortet er. Bei der Analyse des verkorksten Olympiatags ist der 44-Jährige selbst acht Jahre danach keinen wesentlichen Schritt weiter. „Vielleicht lag es an den für mich als Olympia-Neuling ganz ungewohnten Wettkampfbedingungen. Alle organisatorischen Abläufe in Athen dauerten wesentlich länger als beim Weltcup, was die Vorbereitung etwas störte. Vielleicht fehlten mir aber auch einige Würfe auf hohem Niveau kurz vor dem Olympiawettkampf. Die hatte ich nicht“, sinniert er. Es sind jede Menge Spekulationen, die er als Antwort hat, aber keine klingt selbst für ihn so richtig plausibel. Athen 2004 – es bleibt ein Rätsel für ihn.

Doch es ist Stoff von gestern. Heutzutage gibt sich Esenwein („ich bin wieder verletzungsfrei“) zukunftsorientiert. Im Herbst will er entscheiden, ob er noch ein Jahr des Hochleistungssports anhängen wird. „In diesem Fall“, verspricht der alte Ehrgeizling, der in 22 Wettkampf-Jahren erst Klasse-, dann Weltklasse-Speerwerfer war, „werde ich mich voll auf die Weltmeisterschaft 2013 in Moskau konzentrieren.“ Er meint es ernst.

Vorher wird Peter Esenwein noch Eines tun: In den Körper hinein horchen um zu hören, was die Knochen sagen.