Lokalsport

Klaus Olympis

Was haben der österreichische Segler Hubert Raudaschl, der kanadische Springreiter Ian Millar und unser Mitarbeiter Klaus Schlütter aus Denkendorf gemeinsam? Antwort: Alle drei haben an zehn olympischen Sommerspielen teilgenommen und sind damit die Rekord-Olympioniken. Schlütter war 1960 in Rom zum ersten Mal als Fan dabei, ab 1972 neun Mal in Folge als Reporter. Anlässlich der Spiele in London kramte der ehemalige BILD-Mann in seinen ganz persönlichen Erinnerungen.

Wir waren voller Vorfreude, meine drei Kumpels und ich, frisch gebackene Volontäre bei den „Heidenheimer Neuesten Nachrichten“. Eben erst die Führerschein-Prüfung bestanden, Vaters VW-Käfer erfolgreich erbettelt und ab ging`s Richtung Rom zu den Olympischen Spielen. Erstes Ziel vor Ort: Autogramme sammeln von den Stars aus Ost und West – BRD und DDR stellten eine gemeinsame Mannschaft. Dazu musste einer ins Olympische Dorf. Aber wie ohne Passierschein? Paul Gnaier, der einarmige Degenfechter aus Heidenheim, löste das Problem. Er verschwand kurz auf seinem Zimmer, kam mit seinem olympischen Jogginganzug zurück. Fix die Klamotten gewechselt und fertig war der neue „Olympionike“. Die sonst so strengen Dorfsheriffs winkten mich mit einem freundlichen Lächeln durch die Sperre.

Chorsänger bei Gotthilf Fischer

Zwölf Jahre später 1972 in München musste ich nicht mehr tricksen – als Redakteur war ich für BILD akkreditiert. Zum Einstand sollte es eine ausgefallene Story sein. Ich klopfte bei Gotthilf Fischer in Deizisau an. Der legendäre „Herr der singenden Heerscharen“ hatte den Auftrag, die Eröffnungsfeier mit einem Riesenchor und urdeutschem Liedgut („Horch, was kommt von draußen rein“) auszugestalten. Ich fragte, ob ich mitsingen dürfte. Er verzichtete – zum Glück – auf eine Gesangsprobe und sagte „ja“, wofür ich ihm noch heute dankbar bin. Denn mit einer gelungenen Reportage über den Auftritt als „Sängerknabe“ punktete ich bei der Chefredaktion.
Heiter begann es – zehn Tage später folgte der Absturz in die Düsternis. Beim Überfall palästinensischer Terroristen starben neun Mitglieder der israelischen Mannschaft, fünf Guerillas und ein deutscher Polizist. Trotz des Massakers gingen die Spiele weiter. Der 85-jährige IOC-Präsident Avery Brundage prägte den Satz „The games must go on“ und rettete damit die Grundidee der Spiele als Friedensstiftung auf Zeit gegen politische Konflikte.
Wegen des Attentats wurden die Sicherheitsbestimmungen bei Olympia erheblich verstärkt. In Montreal 1976 wurde ein Berliner Kollege verhaftet, nur weil er in der Fechthalle einige Sekunden zu lang im Aufgang stehen geblieben war. Seine Radioreportage aus der Gefängniszelle wurde zum journalistischen Highlight.

Ohne Papiere im Niemandsland


Die Redaktion schickte mich zum Modernen Fünfkampf, doch statt nach Bromont fuhr ich versehentlich  Richtung Vermont. Plötzlich stand ich an der Grenze, gefangen im Niemandsland zwischen Kanada und USA, ohne Visum, ohne Ausweis. Es folgten lange Verhöre und hektische Telefonate mit der BILD-Zentrale. Die Freilassung erfolgte erst, nachdem die Redaktion mit einem Fax meine Identität beglaubigt hatte. Übrigens: Als ich Stunden später endlich in Bromont eintraf, war der Wettbewerb längst beendet. Bevor wir am Schlusstag den Mietwagen zurückgaben, besichtigten mein Frankfurter Kollege Werner B. und ich die berühmte Kathedrale von Montreal. Am Parkplatz reichte uns ein Pater statt eines Parkscheins eine Opfertüte. Die Bitte um eine kleine Spende überhörten wir geflissentlich. Gottes Strafe folgte auf dem Fuß. Kaum hatten wir den Parkplatz wieder verlassen, gab unser Auto den Geist auf und musste abgeschleppt werden.
Nach dem Überfall der Sowjets auf Afghanistan entschied die Mehrzahl der westlichen Länder, die Spiele 1980 in Moskau zu boykottieren. BILD entsandte trotzdem zwei Reporter, um die Informationspflicht zu erfüllen. Entsprechend der Haltung unserer Zeitung wurden wir als „Boykottniks“ geortet, unfreundlich behandelt und finanziell abgezockt. Wir „rächten“ uns auf unsere Art.

Die Rache der
„Boykottniks“

Ein Tüftler unter den Kollegen fand heraus, dass man von einem Apparat in der Bar des Moskauer Riesenhotels „Rossia“ kostenlos in alle Welt telefonieren konnte. Die Entdeckung verbreitete sich wie ein Lauffeuer und der Barkeeper wunderte sich, warum sein Telefon jeden Abend stundenlang belagert war.
1984 drehten die Sowjets den Spieß um und boykottierten die Spiele in Los Angeles. Doch das tat der Begeisterung der Amerikaner keinen Abbruch. Ein nationaler Olympiataumel erfasste das Land. „Go for gold“, hieß die Devise. Symbol- und Gallionsfigur wurde Superstar Carl Lewis, der es mit vier Goldmedaillen dem legendären Jesse Owens 1936 in Berlin gleichtat.

Böse Blicke für
den „Piepser“

Die riesigen Entfernungen in L.A. sorgten für ein Problem: Wie erreicht der Chef vom Dienst im Büro seinen Reporter? Handliche Handys waren noch in der Entwicklung. Wir wurden mit kleinen „Piepsern“ ausgestattet. In der Zentrale wählte man die entsprechende Nummer und schon meldete sich das Gerät - so laut, dass ich in der Schießhalle böse Blicke erntete. Ich stand hinter einem deutschen Gewehrschützen, der sich auf den nächsten Schuss konzentrierte, als das Ding plötzlich loslegte.
Von den Spielen 1988 in Seoul hat sich ein Bild ins Gedächtnis eingebrannt: Bei der Siegerehrung fürs Florettfechten standen zum ersten Mal in der Olympiageschichte drei Mädels aus einem Klub auf dem Podest. Anja Fichtel, Zita Funkenhauser und Sabine Bau machten den FC Tauberbischofsheim und seinen Zampano Emil Beck endgültig weltberühmt.

Gut gerülpst und geschmatzt


Am Tag danach ging`s zum Roastbeef-Essen beim Koreaner um die Ecke. In die Feuerstelle mitten auf dem Tisch wurde glühende Holzkohle eingefüllt, das rohe Fleisch auf den Rost gelegt. Mit einer Schere schnitt die Bedienung das Beef in Stücke. Ebenso die Beilagen wie Nudeln und Gurken. Statt Messer und Gabel wurden Stäbchen gereicht. Mir fielen sie immer durcheinander wie beim Mikado-Spiel. Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, das Fleisch auf ein grünes Blatt zu packen, das wie Brennesel schmeckte. Noch ein bisschen Knoblauch drauf und rein in den Mund, dass die Soße durch die Finger quoll. Geschmatzt und gerülpst habe ich auch. Das ist in Korea schicklich, wenn`s geschmeckt hat.

Rommel machte Koreaner nass


Gaumenfreuden nach Schwabenart gab`s  bei der Präsentation Stuttgarts für die Sommerspiele 2004 (die für die Katz‘ war). Den Koreanern wurden Maultaschen und Brezeln gereicht, dazu Riesling, Trollinger und Fruchtsaft aus Vaihingen. Beim Bieranstich schlug OB Manfred Rommel schräg auf den Zapfen und spritzte die Gäste mit einer riesigen Fontäne nass. Rommel bruddelte: „Jetzt han i doch erscht heut morga d`Händ g`wäscha. Des muaß doch net scho wieder sei.“ Ein Reporter fragte ihn nach dem Unterschied zwischen ihm und seinem Vater. Meinte Rommel: „Mei Vater war in meim Alter scho tot.“
Quicklebendig ging`s 1992 nach Barcelona. Weil ich in Seoul über die großen Erfolge der Fechter berichten durfte, war ich bei den Kollegen nur noch der „Goldgräber“, „Goldfinger“ oder „Medaillenhamster.“ Das Reporterglück blieb mir treu. Im Schwimmstadion erlebte ich die Geburtsstunde des neuen Wunderkinds Franziska van Almsick, damals 14 Jahre alt. Und im Olympiastadion am Hausberg Montjuic war ich live dabei, als Dieter Baumann mit weit aufgerissenen Augen als Sensationssieger ins Ziel des 5000-Meter-Laufs stürzte.
Barcelona hatte das gewisse Etwas, dagegen war Atlanta 1996 mit seinen „Coca-Cola-Spielen“ eine Stadt ohne Glanz. Aber mit viel, viel Verkehr und einem Straßengewirr, in dem man sich verfahren konnte.

Gegenverkehr in Atlanta


Es war Nacht und es regnete in Strömen. Der Scheibenwischer meines Mietwagens schaffte es einfach nicht, für klare Sicht zu sorgen. So geschah es, dass mir bei der Auffahrt auf den Highway plötzlich Autos entgegen kamen. Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte: Ich war ein Geisterfahrer! Instinktiv schaltete ich den Warnblinker ein, passte einen günstigen Moment ab und wendete blitzschnell. Im  Rückspiegel sah ich, wie sich ein Wagen mit Blaulicht in rasender Fahrt näherte. O Gott, Polizei! Doch, was Wunder, die fuhr mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbei. Die  Cops jagten einen Verbrecher. Da war ihnen glücklicherweise ein schwäbisches Verkehrssünderlein egal.
Man hatte uns vorgewarnt. Der August in Australien könne sehr kalt werden. Dass die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken würden, wie bei unserer Ankunft 2 000 in Sydney, damit hatte keiner gerechnet. Die wenigen Heizkörper und Wolldecken, die uns die Organisatoren zur Verfügung stellten, waren rasch vergriffen. In den Blechhütten des Pressedorfs wurde gebibbert, was das Zeug hielt. Erst nach einer knappen Woche weckte die Sonne die Lebensgeister.

Gluck, gluck – weg war das Gold


Superstar Marion Jones hatte kein Problem mit der Betriebstemperatur. Die Sprinterin und fünffache Medaillengewinnerin war gedopt, wie sich später herausstellte. Genau wie ihr Ehemann Cottrill J. Hunter, der Sieger im Kugelstoßen. Beide mussten das ganze Edelmetall wieder abgeben. Dann lieber erfolglose, aber saubere deutsche Schwimmer. Kein Gold – gluck, gluck, weg war´n sie.
Kaltstart in Australien – überhitzte Spiele 2004 in Athen mit zwei Kirchheimern. Die 200-Meter-Finalisten – unter ihnen Tobias Unger – mussten am Start zehn Minuten warten, weil sich 74 000 Griechen nach ihrem dopinggesperrten Sprintstar Kentiris die Kehlen heiser schrien. Unger war als Siebter schnellster Weißer, US-Sieger Crawford wurde gnadenlos ausgepfiffen.

Steffi trocknete Lados Tränen


Um Lado Fumic spielte sich am Fuß des Mount Parnitha ein kleines Drama ab. Schon bei der ersten Abfahrt brach der Sattel seines Mountainbikes. Der Versuch, ihn mit Klebeband zu fixieren, misslang. Fumic verletzte sich im Sitzen an seiner empfindlichsten Stelle und blutete. Von Schmerzen geplagt gab er bei der Hälfte des Rennens auf – und rettete damit die Familienplanung…
Ich stand zufällig in der Nähe, als es passierte. Lado saß wie ein Häufchen Elend unter einem Baum. Bevor ich ihn trösten konnte, hatte sich schon Freundin Steffi zu ihm durchgekämpft und trocknete seine Tränen. Gemeinsam drückten sie dann Lados jüngerem Bruder Manuel die Daumen. Der war gestürzt, fuhr mit zerrissenem Trikot auf Platz acht.
Nicht nur Sportler, auch Reporter werden älter: Seit Peking 2008 habe ich bei Olympia nur noch Ringe unter den Augen – vom vielen Fernsehgucken.