Lokalsport

Lusiak

Rund zehn Jahre nach der politischen Wende erfolgte auch im Leben des polnischen Nationalringers Krzysztof Lusiak eine tiefe Zäsur: 1999 gab der ehemalige Star des Oberligisten KG Kirchheim/Köngen seine 1 300 Kilometer entfernte Heimatstadt Krasnystaw auf, heiratete in Kirchheim und zog nach Ötlingen. Seit Januar 2012 zählt er zu den besten Ringer-­Kampfrichtern Deutschlands.

Als Krzysztof Lusiak in der dritten Saison seines Auslands-Engagements bei der KG Kirchheim/Köngen 1996 in Korb antrat, um einen Gegner niederzuringen, begegnete er jemandem, der sein Leben grundlegend verändern sollte. Inmitten der Zuschauer saß nämlich auch die 17-jährige angehende Modefachverkäuferin Anna – sie war seine zukünftige Ehefrau. Drei Jahre später heirateten beide, und anschließend zog Lusiak aus dem elterlichen Haus in seiner Heimatstadt Krasnystaw unweit der russischen Grenze aus und zusammen mit seiner Frau in die neue Ötlinger Wohnung ein. 2006 kam Töchterchen Celine zur Welt. „Mein Entschluss, nach Deutschland zu kommen, war genau der richtige“, sagt Lusiak (40) im Rückblick. Für den Sohn eines Straßenbauarbeiters hätte es nach seiner Umsiedelung nicht besser laufen können, denn einen Job als Fahrzeuginnenausstatter bei der Firma Recaro hat er seit einigen Jahren auch.
Es lebt sich gut für Lusiak in Kirchheim, fast 1 300 Kilometer entfernt von seiner polnischen Heimatstadt. Krasnystaw hat er früher öfter besucht, inzwischen, weil Job, Familie, Kindererziehung, Kampfrichtertätigkeit und das Hobby Fliegenfischen den Alltag füllen, erfolgt die bis zu 16  Stunden lange Auto(tor)tour bis fast an die russische Grenze höchstens noch einmal innerhalb von drei Jahren. „Dafür telefonieren wir regelmäßig nach Polen“, sagt Lusiak, dessen Mutter Czeslaw (82) nach seiner Auslands-Emigration inzwischen nur noch von Bruder Marek (49) umsorgt wird. Die Familie ist empfindlich geschrumpft in der Vergangenheit. Nach dem tragischen Bergwerksunfall-Tod seines zweiten Bruders ­Andrzej im Alter von 26 Jahren verstarb vor vier Jahren auch Vater Czeslaw. Er wurde 76 Jahre alt. Zum Glück kommen finanziell heute alle problemlos über die Runden.
Das war so bereits in Zeiten, als Krzysztof Lusiak frisch die Schulbank drückte. Der Vater arbeitete damals im Straßenbau, die Mutter verdiente ihre Zloty als Bedienstete im Krankenhaus. Der Doppelverdienst der Eltern führte dazu, dass der Wohlfühlfaktor der vierköpfigen Familie nie wirklich schlecht war und ihre Kritik am mängelbehafteten kommunistischen Planwirtschafts-System nie wirklich laut. Und außerdem besaß man ja ein Häuschen.
„Ringen oder Fußball?“ – Das war die Frage, die man dem schmächtigen, aber bewegungsbegabten Krzysz­tof stellte, als er sieben war. Mehr Alternativen gab es im einzigen örtlichen Sportverein ZKS Start Krasnystaw im Jahre 1978 nicht, und weil der Kampfsport die besseren Perspektiven versprach, entschied er sich gegen die Fußballabteilung. Deren Mannschaft war viertklassig – die ZKS-Ringer aber waren in Polen bekannt dafür, immer mal wieder Ausnahmetalente wie den zweifachen Olympiastarter Robert Kostecki he­rauszubringen. So etwas spornte den jungen Schüler genauso an wie die Tatsache, dass schon seine älteren Brüder erfolgreiche Ringer gewesen waren. „Ich wollte beiden damals nacheifern“, sagt Lusiak. Es fehlte ihm damals nicht an Talent, aber an Pfunden. Weil der Hänfling beim Wiegen fast immer unter der vom Ringerverband strikt festgelegten 22-Kilogramm-Untergrenze blieb, musste er zum Gewichtmachen fetthaltige Milch trinken – so viel, dass es ihm fast schlecht wurde. Heute macht Lusiak um jedes Milchglas einen Bogen. Die Erinnerungen.
Doch das ungeliebte Getränk half ihm schließlich auf der Karriereleiter weit nach oben. Mit 18 brauchte er auf nationaler Ebene keinen Mattenvergleich mehr zu scheuen. In seiner Gewichtsklasse bis 52 Kilogramm wurde er zwei Mal polnischer Jugendmeister, die Berufung in die Junioren-Nationalmannschaft (1987) und lukrative Auslands-Turnierstarts in Österreich, der DDR und Rumänien folgten. Es war der Lohn für hartes Training. 1990 durfte er mit zu den Junioren-Europameisterschaften ins westfinnische Lapua, wo er Siebter wurde: „Der größte Erfolg in meiner Ringer-Karriere neben dem dritten Platz 1996 bei den polnischen Aktivenmeisterschaften“, wie er selbst urteilt.
Von Anfang an hatte Lusiak, elterlich unterstützt, voll auf die Karte Ringersport gesetzt. Mit Erfolg. „Mit dem Ringen habe ich mehr Geld verdient als später im Beruf“, rechnet er heute nach. Autohändler wurde Lusiak, der ausgebildete Maurer und Landwirt, kurz nach der Wende, so wie viele Polen. Doch die Geschäftsidee, gebrauchte Golfs, Mercedes‘ und Audis auf großen belgischen Automärkten aufzukaufen, um sie nach der Überführung für gutes Geld an die polnischen Landsleute zu verkaufen, ließ sich nur wenige Jahre lang verwirklichen. Danach war der polnische Markt mit Westautos fürs Erste gesättigt.
Das Angebot von Kirchheims umtriebigem Ex-Ringerchef Roland Droll, damals mit einer Polin verheiratet, kam Lusiak jetzt wie gerufen. 1994 verpflichtete ihn Droll als Landesliga-Kämpfer für die soeben neu gegründete Ringer-Kampfgemeinschaft Kirchheim/Köngen, besorgte ihm die Aufenthaltsgenehmigung und vermittelte ihm einen Aushilfsjob im Otto-Hofmeister-Haus. Fortan wurde Lusiak Jahr für Jahr zum Saisonarbeiter im Herbst – ringertechnisch und hinterm Tresen. Neun Monate Polen, drei Monate Deutschland – so sah sein ständiger Jahresplan aus.  Bis zu seiner Heirat 1999 dauerte die Pendelei. Sein Entschluss, ganz in Deutschland zu bleiben, findet er im Nachhinein ebenso richtig wie sein früherer Ziehvater. „Lusiak ist das Paradebeispiel für gelungene Integra­tion. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass das so ist“, sagt Roland Droll, der es Kraft seiner Menschen-Erfahrung eigentlich wissen muss: 17  polnische Qualitäts-Ringer hat der 65-Jährige in seinem Leben an deutsche Vereine bereits vermittelt. Fünf davon landeten bei der KG Kirchheim/Köngen, einige in der ersten Bundesliga.
Für Drolls damalige Offerte ist Lusiak noch heute dankbar. Inzwischen hat der Mann, mit dem die KG Mitte der Neunzigerjahre bis in die Oberliga aufstieg, alles, was er braucht: nette Familie, guten Job und weiterhin viel Spaß am Ringen. Nur seine Perspektive hat sich inzwischen gründlich geändert: Bei den Kämpfen ist er nicht mehr im direkten Infight involviert, sondern Kampfrichter. Allerdings ist er einer der wichtigsten Mattenleiter überhaupt. Seit dem 26. Januar 2012 besitzt Lusiak die national höchste Kampfrichter-Lizenz und zählt damit zu jenen 30 Auserwählten hierzulande, die Kämpfe in der Ringer-Bundesliga pfeifen dürfen. Lusiak, der Ehrgeizling, hat in Deutschland die nächste Herausforderung entdeckt. Es bleibt wohl nicht die letzte.