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„Eine Sprache zu lernen braucht Zeit“

Die Logopädin Silke Kromer im Interview zum heutigen europäischen Tag der Logopädie

Spielerisch behandeln Logopäden wie Silke Kromer kleine Patienten. Insgesamt entwickeln sieben Prozent aller Kinder eine Sprache
Spielerisch behandeln Logopäden wie Silke Kromer kleine Patienten. Insgesamt entwickeln sieben Prozent aller Kinder eine Sprachentwicklungsstörung. Davon hat etwa jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund.Foto: Jean-Luc Jacques

„Mehrsprachigkeit: Chancen nutzen!“, so lautet der Slogan, mit dem der heutige europäische Tag der Logopädie überschrieben ist. In Kirchheim kümmern sich in einer guten Handvoll logopädischer Praxen Fachleute darum, Störungen bei der Sprachentwicklung auch bei Menschen mit Migrationshintergrund zu beheben.

 

Was versteht man denn überhaupt unter Mehrsprachigkeit?“
Silke Kromer: Mehrsprachigkeit ist zunächst mal kein Zustand, sondern ein Prozess, der sich durch verschiedene Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt auszeichnet. Mehrsprachigkeit ist auch kein erfolgreiches Fremdsprachenlernen sondern eine notwendige Konsequenz aufgrund bestimmter Lebenssituationen. Eine Sprache oder mehrere Sprachen zu lernen, braucht Zeit und hängt von vielen Faktoren wie Sprachbeherrschung, Zeitpunkt des Spracherwerbs und den Möglichkeiten zur Anwendung ab.

Inwiefern ist Mehrsprachigkeit ein Schatz, den es zu heben gilt?
Kromer: Mehrsprachigkeit bedeutet für die Menschen immer eine zusätzliche Kompetenz und birgt Ressourcen für den Umgang mit verschiedenen Personenkreisen und Kulturen. Das Beherrschen mehrerer Sprachen kann für die allgemeine und besonders auch für die berufliche Entwicklung ein Vorteil sein. Dieser Reichtum wird in den Ländern wie Deutschland, die einsprachig geprägt sind, häufig verkannt.

Welche konkreten Chancen bieten sich für mehrsprachig aufwachsende Kinder?
Kromer: Das sprachliche Wissen und Weltwissen der Kinder ist durch eine zusätzliche Sprache und Kultur erweitert. Die neuere Forschung hat herausgefunden, dass Mehrsprachigkeit kognitive Vorteile birgt. Je früher die Mehrsprachigkeit beginnt, desto leichter lernt das Gehirn. Dabei werden größere Bereiche im Gehirn aktiviert und vernetzt.

Wo liegen besondere Herausforderungen?
Kromer: Wichtig erscheint es mir, falsche Vorstellungen und Vorurteile aus den Köpfen zu bekommen. Zum Beispiel glauben immer noch viele Menschen, dass es das Gehirn überfordert, mehrere Sprachen zu lernen, oder dass es wichtig ist, mit den Kindern viel deutsch zu sprechen, auch wenn dies nicht die Erstsprache des Erwachsenen ist. Es kursieren zu viele falsche Aussagen bezüglich Mehrsprachigkeit. Einsprachigkeit kann dafür keinesfalls als Maßstab dienen.
Werden Grammatik und Artikulation verschiedener Sprachen jeweils in unterschiedlichen Regionen des Gehirns abgelegt?
Kromer: Der Spracherwerb ist ein äußerst komplexer Prozess, und das zu erläutern würde hier den Rahmen sprengen. Grundsätzlich gilt, dass die Kompetenzen der Erstsprache beim Erwerb der Zweitsprache angewendet werden. Je besser der Erwerb der Erstsprache gelungen ist, desto besser sind die Voraussetzungen für den Erwerb weiterer Sprachen.

Lernen mehrsprachig aufwachsende Kinder tendenziell verzögert sprechen?
Kromer: Nein. Man kann sagen, sie lernen anders. Dabei gibt es keinen „Fahrplan“.

Warum sollten Eltern mit ihren Kindern in der Muttersprache reden?
Kromer: Eltern sollen mit Kindern in der Sprache reden, in der sie sich am besten ausdrücken können und mit der sie Kindern Wissen und Sprachfähigkeit weitergeben können. Mit dieser Sicherheit fördern sie nicht nur die Sprache, sondern die gesamte Entwicklung des Kindes. Der Begriff „Muttersprache“ ist hierbei mehrdeutig, besser soll von „Erstsprache beziehungsweise Zweitsprache“ gesprochen werden.

Lernen Kinder mit Migrationshintergrund im Kindergarten die deutsche Sprache?
Kromer: Nicht ausschließlich. Es kommt auf das soziale Umfeld der Familien an und ob eventuell schon ältere Geschwister deutsch sprechen gelernt haben. Wichtig hierbei ist nach neuen Forschungsergebnissen, dass die Kinder in der direkten Ansprache die Zweitsprache erlernen. Alleine vom Zuhören und Mitspielen entwickelt sich die Sprache nicht.

Reicht der Start im Alter von drei Jahren?
Kromer: Wenn die Zweitsprache nach der Erstsprache erworben wird, ist der Beginn mit Eintritt in den Kindergarten ausreichend. Aber auch hier gilt: Der Erwerb der Zweitsprache ist nicht allein vom Zeitpunkt abhängig, sondern von einem Bündel an Faktoren. Dazu zählen beispielsweise die Qualität der Erwerbsbedingungen, die Motivation und die kommunikative Notwendigkeit.

Wie viele Sprachen können Kinder gleichzeitig lernen?
Kromer: Es ist gut möglich, mehrere Sprachen zu erwerben. Dabei steht uns einsprachigen Deutschen zu wenig vor Augen, dass für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung Mehrsprachigkeit ganz normal ist.

Haben mehrsprachig aufwachsende Kinder häufiger eine logopädische Behandlung nötig als andere?
Kromer: Nein. Insgesamt entwickeln sieben Prozent aller Kinder eine Sprachentwicklungsstörung. Etwa jedes dritte Kind hiervon hat einen Migrationshintergrund. Daneben gibt es noch Störungen der Artikulation, die nicht altersgemäß sind. Mehrsprachigkeit ist keine Voraussetzung und auch keine Verstärkung für eine Sprachentwicklungsstörung. Allerdings entwickeln Kinder, die aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien stammen, ihre Sprachkompetenz häufig nicht altersgerecht. Dies trifft auch auf viele Familien mit Migrationshintergrund zu.

Aus welchen Ländern stammen die Kinder beziehungsweise ihre Eltern, die zu Ihnen in die Praxis kommen?
Kromer: Der höchste Prozentsatz mehrsprachiger Patienten in meiner Praxis stammt aus der Türkei, gefolgt von Menschen aus Albanien, Kroatien und Italien. Genauso kommen zu mir aber auch Menschen beispielsweise aus Russland, Sri Lanka, Indien, Pakistan und dem Libanon.