Lokales

Blaulicht und Martinshorn

Teckboten-Serie „Nachtarbeiter“: Mit dem DRK Rettungsdienst im Nachteinsatz

In einer Reportage-Serie stellt der Teckbote Menschen vor, die ihrer Arbeit nachgehen, wenn andere schlafen. Heute: Unterwegs mit der Nachtschicht des DRK-Rettungsdienstes Kirchheim.

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Reportage Nachtarbeiter, DRK Rettungsdienst, Notfall, Notfallrettung, Nacht, Verkehrsunfall, Frau von PKW erfasst, NŠhe Schlierbach,Rettungswagen, Unfall, EinsatzstelleNotarzteinsatz, erste Hilfe, Lebensretter
Rettungsassistent Achim Grupp steuert den Rettungswagen 5/83-1 zum Einsatz (oben), einem Verkehrsunfall mit einer schwer verletz
Rettungsassistent Achim Grupp steuert den Rettungswagen 5/83-1 zum Einsatz (oben), einem Verkehrsunfall mit einer schwer verletzten Frau bei Schlierbach (unten). Axel Baumann beim Einräumen des Notfallkoffers (kleines Foto).Fotos: Markus Brändli

Kirchheim. Dienstag, 19.59 Uhr. Das Blaulicht zuckt gespenstisch über den kalten Asphalt. Vom Dach des DRK-Rettungswagens 5/83-1 dröhnt das Martinshorn. Rettungsassistent Achim Grupp, 57, drückt aufs Gaspedal des 160 PS-starken Sprinters. Rechts neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzt mit knurrendem Magen Rettungshelfer Axel Baumann, 22. Seinen Döner, der gut verpackt auf der Ablage liegt, kann er erst mal vergessen. Vor wenigen Sekunden hat die Rettungsleitstelle Esslingen den Einsatz auf Grupps kleinem Melder gefunkt, den er immer am Gürtel trägt. „Einsatz zwischen Schlierbach und Kreuzeiche – eine Verletzte“.

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Reportage Nachtarbeiter, DRK Rettungsdienst, Notfall, Notfallrettung, Nacht, Check der AusrŸstung zum Dienstbeginn, Rettungshelfer Axel Baumann prŸft den Inhalt des NotfallkoffersNotarzteinsatz, erste Hilfe, Lebensretter

Autofahrer machen dem signalrot-weißfarbenen Einsatzwagen Platz – fahren eilig, andere nur zögernd, rechts ran. Gott sei Dank ist die Straße trocken. Doch es ist bitterkalt.

Im Industriegebiet von Schlier­bach setzt sich ein Feuerwehrfahrzeug vor den Rettungswagen. Beide nehmen den selben Weg. Bereits von Weitem sehen Grupp und Baumann die Warnleuchten. Autos stehen rechts und links am Straßenrand. Achim Grupp parkt sein Gefährt vor einem der Fahrzeuge und schaltet die Außenbeleuchtung ein.

Im ersten Augenblick bietet sich ein konfuses Bild: Wo ist der oder die Verletzte? Die Straßenböschung ist mit Hecken und Bäumen bewachsen. Grupp und Baumann sehen zunächst nur die Köpfe eines jungen Mannes und einer jungen Frau über die Böschung lugen und hören Schmerzensschreie. Dann klettert der junge Mann mit der Wollmütze durch das Gestrüpp auf die Straße hoch und schildert dem Rettungsassistenten den Unfall. Ein Geländewagen, das Fahrzeug steht weiter vorne, hat eine dunkel gekleidete Fußgängerin am Straßenrand übersehen, auf die Kühlerhaube genommen und in die Böschung geschleudert. Der junge Mann, ebenfalls Rettungsassistent, wie sich herausstellt, war zufällig gemeinsam mit seiner Freundin zu dem Unfall gekommen.

20.08 Uhr. Aus Göppingen trifft der Notarzt mit einer Kollegin im Praktikum ein, weil die Kirchheimer Notärzte alle anderweitig im Einsatz sind. Inzwischen gehen die Feuerwehrmänner daran, das Gelände auszuleuchten. Der Notarzt versorgt die Frau, Rettungsassistent und -helfer assistieren ihm. Der Arzt bittet die Feuerwehr, die Hecken an der Böschung zu kappen, damit die Verletzte besser geborgen werden kann.

20.26 Uhr. Achim Grupp und Axel Baumann bringen die schwer verletzte Frau auf der Trage in den Rettungswagen und schließen die Türen. Währenddessen nimmt die Polizei den Unfall auf. Im dafür ausgerüsteten Teil des Rettungsmobils untersucht der Notarzt die Frau. Der Mediziner geht von einem Becken- und Oberschenkelbruch aus und rechnet auch mit inneren Verletzungen.

20.36 Uhr. Axel Baumann bugsiert den Rettungswagen vorsichtig durch die parkenden Autos und fährt langsam in Richtung Hattenhofen. Der Notarzt, seine Kollegin und der Rettungsassistent stabilisieren den Kreislauf der Frau. Hattenhofen, Betzgenriet: Vorsichtig steuert Baumann um die Kurven der Kreisverkehre und weicht, so gut es geht, jeder Unebenheit im Asphalt aus. Jebenhausen, links ab in Richtung Eichert.

20.49 Uhr. Der Rettungswagen schiebt sich langsam in die Schleuse der zentralen Notaufnahme 04 im rückwärtigen Bereich der Klinik. Die Schwerverletzte stöhnt, während sie auf der Trage von Rettungsassistent und Rettungshelfer in den Schockraum geschoben wird, begleitet von den Notärzten.

20.57 Uhr. Achim Grupp und Axel Baumann kommen zurück und verstauen die Trage im Rettungswagen. Der Rettungshelfer füllt noch an Ort und Stelle den Notfallkoffer auf.

21.08 Uhr. Achim Grupp meldet der Leitstelle Esslingen „nicht mehr Einsatz klar“ und fährt zurück nach Kirchheim. Der Rettungswagen ist erst wieder nach einer größeren Putzaktion für Einsätze bereit.

22.13 Uhr. Rettungswagen 5/83-1, einer von Dreien in der Wache, ist wieder blitzblank und die DRK-Retter können endlich im Gemeinschaftsraum der Rettungswache einen Happen zu sich nehmen. Axel Baumanns Döner ist lauwarm – „bin ich gewöhnt“, so der gelassene Kommentar des 22-jährigen Mechatronikstudenten, der den Rettungsdienst in Kirchheim bereits als Zivi kennenlernte und nun sein Studium mit den Einsätzen nachts und am Wochenende finanziert.

Derweil schlingt Achim Grupp sein Laugenbrötchen mit Fleischsalat hinunter und gönnt sich als Dreingabe noch einen Landjäger. „Im Rettungsdienst stehst du immer unter Strom, auch beim Essen. Und an einen erholsamen Schlaf ist nicht zu denken. Das ist so in dir drin, das ist unglaublich. Praktisch in ein paar Sekunden von Null auf 100“, beschreibt Grupp seine Reaktion, wenn der Melder vibriert. Das bestätigt auch Axel Baumann. Selbst, wenn der Rettungsassistent nach seiner zwölfstündigen Nachtschicht nach Hause kommt, ist nicht an Schlaf zu denken. „Dann geh‘ ich zuerst mit dem Hund Gassi und lege mich erst mittags, wenn ich müde werd‘, zwei, drei Stunden aufs Ohr. Danach bin ich wieder glockenwach.“ Und anderntags beginnt die Schicht um sechs Uhr.

Zum unruhigen Schlaf kommen Gedanken an die bewegenden Schicksale der Menschen, mit denen es Grupp und Baumann täglich zu tun haben. „Man wird nicht abgebrühter, wenn man älter wird“, weiß der 57-jährige Rettungsassistent aus Erfahrung. Seit 35 Jahren ist er am Steuer der Einsatzwagens, bringt Patienten von den Arztpraxen und Krankenhäusern nach Hause oder holt sie dort ab und transportiert sie in die Kliniken, fährt Rettungseinsätze, bei denen es auch um Leben und Tod gehen kann.

Insgesamt 24 Planstellen stehen im Organigramm des DRK-Rettungsdienstes Kirchheim. Tatsächlich arbeiten dort fünf Frauen und 17 Männer. Von ihnen warten des Nachts vier Personen in der Kirchheimer Rettungswache auf ihren Einsatz. Stehen tagsüber vier Krankenwagen, drei Rettungswagen und ein Notarztwagen in der Garage an der Kirchheimer Henriettenstraße, so sind es nachts zwei Rettungswagen. Das Einsatzgebiet reicht von Schopfloch bis Wernau und Hochdorf, vom Aichelberg mit der Autobahn bis Hochwang. Die Kirchheimer Rettungswache ist von den sieben im Landkreis die größte. Die Autobahn, die zahlreichen Kletterfelsen, die vielen Wanderer, die Drachen-, Gleitschirm- und Segelflieger in diesem Gebiet machten dies notwendig.

Die Rettungsdienstler fahren Zwölf-Stunden-Schichten. Die Nachtschichten beginnen um 18 beziehungsweise 19 Uhr. „Was wir verdienen?“ Achim Grupps Gesicht verdüstert sich. „Jeder Gabelstaplerfahrer beim Daimler verdient in der Nachtschicht mehr“, tönt es aus der Ecke der Rettungswache. Der Rotstift hat auch vor dem Salär der DRK-Rettungsassistenten nicht haltgemacht. Urlaubsgeld gestrichen, Nacht- und Feiertagszuschlag gekürzt. Und bezahlt werden die Männer und Frauen, die 48 Stunden wöchentlich ihren aufreibenden Dienst versehen, nur für 38,5 Stunden. Dabei kann die Arbeitszeit auf bis zu 54 Stunden ausgedehnt werden – ohne Bezahlung.

Hinzu kommt ein Dienstplan, der weder Ehefrauen noch Ehegatten und Kinder so richtig glücklich macht. „Das soziale Umfeld muss sich nach uns richten. Anders geht es nicht. Wir sind aber gerade dabei, einen familienfreundlicheren Dienstplan aufzustellen“, sagt Grupp.

Auf dem Tisch der Rettungswache stehen inzwischen zwei Kaffeetassen, Kondensmilch, Zucker, eine Colaflasche und eine Apfelsaftschorle und Thomas Gottschalk grinst um 2.07 Uhr aus der rtv-Fernsehzeitung immer noch so unverschämt frisch wie um 23.39 Uhr. Derweil hat sich Achim Grupp auf dem Sofa zur Ruhe gelegt und Axel Baumann ist in einem der zwei Schlafräume verschwunden. Die Melder bleiben ruhig. Die Rettungsleitstelle in Esslingen hat für die Kirchheimer keine Einsätze.

So unterschiedlich kann der Dienst von Schicht zu Schicht sein. Von einer bis 13 Fahrten ist alles drin. „Wir waren in dieser Nacht viermal unterwegs“, berichten Grupps Kollegen, die Rettungsassistenten Rainer Baumann, 46, und Gabriel Schonert, 24, auf dem Weg zu ihrem Rettungsfahrzeug. Jetzt fahren sie zu ihrem fünften Einsatz: „Drehschwindel in Dettingen“.

Es ist Mittwochmorgen, 5.34 Uhr.Für Grupp und Baumann naht der Feierabend.