Lokales

Das Geheimnis des Pfeilschaftglätters

Ausgrabungen im Gewerbegebiet Hegelesberg belegen 7000 Jahre Kirchheimer Siedlungsgeschichte

Archäologen des Landesamts für Denkmalschutz haben in den vergangenen Monaten in Kirchheim sensationelle Funde ans Tageslicht geholt: Es handelt sich um die ältesten Siedlungsreste, die bisher in der Teckstadt aufgetaucht sind. Sie stammen von Menschen, die vor mehr als 7000 Jahren als sesshafte Bauern im heutigen Kirchheim lebten.

Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.

Andreas Volz

Kirchheim. Was für das ungeübte Auge eher unspektakulär daherkommt, ist für den Kenner mehr als aufregend: Auf einem Tisch am Rand des Grabungsgebiets im neuen Gewerbegebiet Hegelesberg liegen Keramikscherben, die einst zu Koch- und Vorratsgefäßen gehörten, Reibsteine von Handgetreidemühlen oder auch scharfe Steinklingen.

Ein ganz besonderes Beispiel für einen Stein, dessen Bedeutung sich selbst den Experten nicht sofort erschließt, hält Projektleiter Dr. Jörg Bofinger vom Landesdenkmalamt in der Hand. „Dieses Felsgestein ist zunächst unscheinbar“, sagt er. „Aber es hat eine Rille, die darauf schließen lässt, dass es sich um einen Pfeilschaftglätter handelt. Dieser Stein war also einmal wichtig zum Bearbeiten von Pfeilschäften.“ Pfeilspitzen oder Steinbeile seien bei der aktuellen Grabung zwar noch nicht aufgetaucht. Aber frühere Funde aus der näheren Umgebung der Nürtinger Straße hätten auch solche archäologischen Zeugnisse zutage gefördert. Insofern ist die Existenz eines Pfeilschaftglätters im Boden des Hegelesbergs nicht weiter verwunderlich.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass es an dieser Stelle eine so große Menge archäologisch bedeutsamer Funde aus der mittleren Jungsteinzeit gibt? Auch darüber informiert Jörg Bofinger die versammelte Presse eingehend: Die neolithische Siedlung habe sich am Rand einer fruchtbaren Lössbodenfläche befunden. Die Menschen lebten damals sowohl vom Ackerbau als auch von der Viehzucht. Fruchtbare Böden waren also eine Grundvoraussetzung für eine Ansiedlung. Andererseits lebten sie aber nicht mittendrin in dem Boden, von dem sie leben wollten, sondern an dessen Rand.

Ihre Häuser, die man heute aufgrund einer beachtlichen Länge von bis zu 30 Metern als „Langhäuser“ bezeichnet, errichteten sie mit Holzpfosten, deren Löcher sich bis heute im Boden nachweisen lassen. Acht solcher Langhäuser haben die Archäologen bislang im Gebiet Hegelesberg lokalisiert. Diese Häuser seien dreigeteilt gewesen, und zwar in Speicher-, Wohn- und Arbeitsbereiche, erzählt Jörg Bofinger.

Die Wände der Langhäuser wiederum bestanden aus Flechtwerk, das mit Lehm verputzt wurde. Eines der Fundstücke ist beispielsweise ein verbranntes Stück Lehm aus dem Wandverputz, das Abdrücke der Wandkonstruktion aufweist.

Auch für ihren Verputz kam den „Kirchheimern“ der Jungsteinzeit der Lössboden zugute: Sie gruben den Lehm direkt neben ihren Häusern aus. Weil aber gleich am Haus eine tiefe Grube eher unpraktisch ist, seien diese Gruben wieder „mit Siedlungsabfall verfüllt“ worden. Zum Auffüllmaterial hätten unter anderem Keramikscherben gehört, wenn die Gefäße zerbrochen waren, oder auch Steinwerkzeuge, die kaputt waren oder verloren gingen.

Die Keramikreste wiederum sind für die Archäologen für die Datierung ihrer Funde interessant. Projektleiter Bofinger: „Es gab ja noch keine Schrift. Also behelfen wir uns mit den Verzierungsmustern der Keramik.“ Keramikreste dieser „ersten bäuerlichen Kulturen“ Europas ließen sich von der ungarischen Tiefebene bis zum Pariser Becken finden. Was nun im Kirchheimer Hegelesberg aufgetaucht ist, weise „die typischen Verzierungsmuster der (Linien)-Bandkeramik“ auf.

Eine eindeutige Datierung ergibt sich aus diesem Befund immer noch nicht. Jörg Bofinger spricht von der zweiten Hälfte des sechsten vorchristlichen Jahrtausends und verweist darauf, dass die Zeit der Linienbandkeramik 500 bis 600 Jahre umfasst: „Im Lauf der Zeit verändert sich auch die Verzierungsweise, die Muster werden immer komplizierter und bekommen immer mehr Verzierungselemente.“ Dann wird der Fachmann in seiner Einschätzung der Kirchheimer Funde doch noch ein wenig konkreter: „Wir sind hier ungefähr in der Mitte der linienbandkeramischen Entwicklung. So ganz grob als Hausnummer würde ich sagen, in der Zeit um 5300.“

Zum Landschaftsbild vor über 7000 Jahren sagt Jörg Bofinger: „Dafür brauchen wir Nachbarwissenschaften wie die Bodenkunde.“ Getreidekörner könnten wichtige Aufschlüsse geben. Leider seien in diesem Boden keine Pollen zu erwarten. Insgesamt aber geht der Projektleiter davon aus, dass das Areal in der älteren bis mittleren Jungsteinzeit „großflächig bewaldet“ war. Die Dorf- und Ackerflächen hätten sich auf gerodeten Lichtungsarealen befunden. Die Anzahl der Menschen, die in dem Dorf am Hegelesberg gleichzeitig lebten, schätzt Jörg Bofinger auf fünfzig bis hundert. In jedem der bis jetzt nachgewiesenen acht Langhäuser hätten wohl zehn bis zwanzig Personen gelebt.

Von der Jungsteinzeit geht es bei der Ausgrabung aber wie im Flug ins 21. Jahrhundert. Und der „Flug“ ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen: Erstmals kommt bei der Kirchheimer Grabung flächendeckend eine Fotodrohne für die Dokumentation zum Einsatz. Jörg Bofinger schwärmt von den exakten Aufnahmen, die diese Drohne liefert: Nahezu millimetergenau lasse sich das gesamte Areal dreidimensional abbilden: „Mit dieser Technologie sind wir um ein Vielfaches schneller, aber mindestens genauso exakt und präzise wie bisher mit unseren Lasergeräten.“ Die Drohne, die in Kirchheim zum Einsatz kommt, sei ein handelsübliches Modell, das die Archäologen nach ihren eigenen Bedürfnissen umgerüstet haben. Insgesamt koste das Gerät vielleicht 2 000 Euro: „Das ist eine Lösung, die kostengünstig und zudem sehr effizient ist.“

Die Gesamtkosten für die Grabung belaufen sich auf 500 000 Euro. Mit 356 000 Euro beteiligt sich die Stadt Kirchheim daran. Zu Beginn des Pressetermins zeigte sich Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker zutiefst beeindruckt von den zeitlichen Dimensionen, die diese Grabungen aufzeigen: „Wir feiern dieses Jahr 150 Jahre Eisenbahn in Kirchheim. Vor 1054 Jahren wurde unsere Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Die Alamannengräber im Rauner führen zurück ins 5. und 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Aber das hier toppt alles: 7000 Jahre Siedlungsgeschichte in unserer Stadt! Das rührt einen durchaus an.“ Deshalb sei es für die Stadt eine Selbstverständlichkeit, sich ihrer Verantwortung der Geschichte gegenüber zu stellen. Trotzdem hofft die Oberbürgermeisterin, dass die Grabung nach Zeitplan über die Bühne geht, denn: „Hier entsteht ein neues Gewerbegebiet, und auch die Wirtschaft ist von allergrößtem Interesse für unsere Stadt.“

Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.
Besichtigung am Hegelesberg zur "archäol. Rettungsgrabung.