Lokales

Eiskalt

In was für einer Welt leben wir eigentlich? Es ist eine Welt, in der ein erst 19 Jahre alter Mann, der eine tragische Flucht mit Folter, Hunger und Todesangst hinter sich hat, im scheinbar heilen Deutschland nachts um halb vier von einer sechsköpfigen Polizistengruppe geweckt wird. Wie ein Schwerverbrecher wird er abgeführt. Auch ein Arzt war zu nächtlicher Stunde anwesend; er soll für die „Reisefähigkeit“ des jungen Eritreers sorgen – man hört, indem er ruhig stellende Medikamente einsetzt. Was das wohl kostet, wenn ein Arzt als Begleitung einer einzelnen Person nach Rom und wieder zurückfliegt? Wo ist da das Verhältnis?

Die Polizei trifft keine Schuld. Sie ist nur ausführendes Organ. Es ist die Politik, die solch unmenschliches Verhalten zulässt und forciert. Es ist die Amtsärztin, die mit ihrer Diagnose entgegen den anderen vorliegenden Gutachten die Reisefähigkeit des Mannes bejaht. Weni Araya aus Wendlingen, die bei der Untersuchung dabei war, empfand die Ärztin als mütterlich. Doch dieser Schein trog: Sie entschied eiskalt. Wie kann man ein solches Verhalten nur mit sich selbst vereinbaren?

Unterdessen ist es bezeichnend, wie die zuständigen Behörden gegenüber der Presse die Verantwortung von sich weisen. Beim Esslinger Landratsamt schiebt man den Schwarzen Peter der Ausländerbehörde der Stadt Kirchheim und dem Regierungspräsidium (RP) Karlsruhe zu. Die Ausländerbehörde verweist auf das RP, dass sich seinerseits wiederum auf die amtsärztliche Diagnose des Gesundheitsamts beruft.

Der junge Eritreer war in Dettingen integriert. Er hatte hier eine gute Chance, sein Trauma überwinden und ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Die vielen Ehrenamtlichen des Dettinger Ar­beitskreises Asyl haben sich um ihn gekümmert, waren für ihn da. Und nun bringt man ihn in ein Land, das ihn nicht haben will, das hinsichtlich der Flüchtlingsströme völlig überfordert ist und die Asylbewerber sogar auf die Straße setzt. Insofern ist es verständlich, dass sich der junge Mann bei seiner Ankunft in Italien im März 2014 weigerte, Fingerabdrücke abzugeben. Denn er wusste, was ihn in Italien erwartet. Eine Politik, die solche Zustände zulässt, ist eine Schande.HEIKE ALLMENDINGER