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Endlich zu Hause

Der Russlanddeutsche Ewald Seher hat fast sein ganzes Leben in Sibirien verbracht (3)

Ewald Seher fYr Serie Yber Migranten -  Humboldstra§e 10
Ewald Seher fYr Serie Yber Migranten - Humboldstra§e 10

Kirchheim. Wenn Ewald Seher auf seinem kleinen Balkon steht, blickt er direkt auf die S-Bahn-Gleise, die die Landeshauptstadt mit Kirchheim verbinden. Der Bahnhof ist nur einen Katzensprung entfernt. „Kirchheim, Endstation. Bitte alle aussteigen“, heißt es dort alle 30 Minuten, wenn die S-Bahn in den Bahnhof rollt. Für Ewald Seher ist Kirchheim ebenfalls Endstation – das Ende einer langen Reise.

Diese Reise beginnt 1941, und sie beginnt ganz und gar nicht freiwillig. Ewald Seher ist sechs Jahre alt, als er mit seinen Eltern und seinem dreijährigen Bruder Hermann aus Straub, einem Dorf an der Wolga, nach Sibirien verschleppt wird. Seine Vorfahren sind Russlanddeutsche, die 1767 von Katharina der Großen nach Russ­land gelockt wurden und sich unter großen Mühen eine Existenz aufbauten. Als Hitlers Truppen 1941 nach Russland einmarschieren, ist es mit dem Frieden vorbei. Als Spione und Saboteure gebrandmarkt, werden die Wolgadeutschen in die Taiga, die endlosen Wälder Sibiriens, verbannt. Allein aus der Wolgarepublik sollen fast eine halbe Million Menschen deportiert worden sein.

Nach einmonatiger Fahrt kommt Ewald Seher mit seiner Familie im Oktober 1941 an. An die Reise erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen, sagt er. An die Ankunft auch. Die sibirische Taiga ist ein dunkler Wald, die Gegend lebensfeindlich und völlig undurchdringbar. Als wäre alles nicht schon schlimm genug, werden Mutter und Vater verschleppt. Der Mutter gelingt die Flucht, auch der Vater kommt irgendwann zurück, gezeichnet von der Zwangsarbeit in einer Kohlegrube.

Die Deutschen werden unter Aufsicht gestellt, dürfen den Siedlungsort nicht verlassen und müssen sich regelmäßig in der Kommandantur melden. Sie werden gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, in dem steht, „dass ich auf ewig ausgesiedelt bin, ohne Recht, zum früheren Wohnort zurückzukehren“. „Ich musste so etwas drei Mal unterschreiben“, erinnert sich Ewald Seher. „Das war ein äußerst demütigendes Erlebnis.“

Auch in der Schule hat der junge Deutsche es schwer. Er spricht kein Wort russisch, lernt jedoch schnell, weil ihm nichts anderes übrig bleibt. Seine Klassenkameraden verspotten ihn wegen seines deutschen Namens und bezeichnen ihn als „Fritz“, was ein Schimpfwort für Deutsche ist. Im Unterricht singen die Schüler die russische Hymne, aber er bewegt nur die Lippen zur Musik.

Als Stalin 1953 stirbt, vergießt Ewald Seher keine Träne. Nach dem Tod des Diktators werden die strengen Regelungen, die die Russlanddeutschen an ihren Siedlungsort binden, allmählich gelockert. Ewald Seher erhält die Erlaubnis, die Hochschule in Krasnojarsk zu besuchen, eine pädagogische Hochschule. Dort studiert er Physik, wird Lehrer.

Drei Jahre hält er es im Lehramt aus, dann wendet sich Ewald Seher dem Bereich zu, der ihn wirklich interessiert: der Forschung. Sein Feld ist die Festkörperphysik. Er forscht im Bereich der Kernresonanz-Spektroskopie, arbeitet sich vom Laboranten zum Professor hoch.

In einem Orchester der Universität lernt Ewald Seher seine Frau Maria kennen. Sie studiert an der Universität Krasnojarsk russische Literatur und Geschichte, unterrichtet später an der Technischen Universität. 1958 heiratet das Paar, bekommt einen Sohn. „Sie war eine gute Lehrerin“, sagt Ewald Seher über seine Frau. „Ich habe einmal an der Tür des Hörsaals gelauscht. Am Ende hat es Applaus gegeben.“ Maria Seher, die nicht deutschstämmig ist und bis heute mit der fremden Sprache kämpft, lächelt traurig, als ihr Mann diese Geschichte erzählt. „Und jetzt schweige ich“, sagt sie.

Ginge es nach Maria Seher, wären sie in Russland geblieben. „Innerlich ist sie heute noch dort, auch wenn sie dankbar ist, in Deutschland zu sein“, sagt Ewald Seher. Doch er selbst ist in Krasnojarsk nie wirklich heimisch geworden, auch nach beinahe 40 Jahren nicht. „Das Gefühl, in Russland unterdrückt zu sein, hat mich mein Leben lang nicht losgelassen“, sagt Ewald Seher. Als die Sowjetunion bröckelt und Deutschland seine Tore für die Russlanddeutschen öffnet, beschließt das Ehepaar, nach Deutschland zu gehen – so wie viele Freunde und Familienmitglieder auch. 1999 verlassen sie Russ­land gemeinsam mit ihrem Sohn. Die politische Situation in Russland erleichtert Ewald Seher die Ausreise. „Nach dem Ende der Sowjetunion kamen in Russland wieder Menschen an die Macht, bei denen man nichts galt“, sagt er.

In Kirchheim fühlt Ewald Seher sich hingegen wohl. Gemeinsam mit seiner Frau Maria betreut er nachmittags das einzige Enkelkind, Laura. Im Sommer fährt der 76-Jährige jeden Tag 20 bis 30 Kilometer mit dem Fahrrad, um sich fit zu halten. Wenn es regnet, geht er in die Stadtbücherei, um zu lesen. Gemeinsam mit seiner Frau baut er im gepachteten Gärtchen in Ötlingen Gemüse an.

Auch das ehrenamtliche Engagement ist ihm wichtig. Als Anfang des Jahrtausends ein Strom von Aussiedlern nach Deutschland kam, hat er im Übergangswohnheim in der Charlottenstraße vielen Menschen bei Behördengängen geholfen und ihnen Deutsch beigebracht. „Viele haben gesagt: Wir haben mehr bei dir gelernt, als im Volkshochschulkurs“, sagt Ewald Seher stolz. Vielleicht, weil er sie erst einmal hat reden lassen, ohne zu sehr auf die Grammatik zu achten.

Mit Russland sei er fertig, sagt Ewald Seher. Nur einmal ist er nach Sibirien zurückgefahren, um das Grab seiner Mutter zu besuchen. Er fühlte sich so fremd, als hätte er niemals dort gelebt.