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Rente dürfte es erst mit 88 geben

Winfried Kösters macht beim „Zukunftsdialog“ auf die Probleme der Demografie aufmerksam

„Wie wollen wir leben?“ Diese Frage soll für Kirchheim der „Zukunftsdialog 2014“ beant­worten. Zunächst gab es in der gut besuchten Stadthalle eine unterhaltsame Auftaktveranstaltung. Der Demografieexperte Dr. Winfried Kösters und das Improvisationstheater „fast forward theatre“ zeigten dabei die Probleme auf, die dazu führen, dass die Zukunftsfrage dringend gestellt werden muss.

Zukunftsdialog Kirchheim StadthalleDr. Winfried Kösters referiert
Zukunftsdialog Kirchheim StadthalleDr. Winfried Kösters referiert

Andreas Volz

Kirchheim. Einer der meistzitierten Philosophen und Aphoristiker bei Veranstaltungen wie dem „Zukunftsdialog“ heißt „Afrikanisches Sprichwort“. Winfried Kösters hatte ein solches Bonmot im Gepäck, um darauf zu verweisen, dass es bei der Beschäftigung mit der Demografie schon längst fünf vor zwölf ist: „Die beste Zeit, um einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren, die zweitbeste ist heute.“ Deshalb macht er landauf, landab dafür Werbung, sich der demografischen Herausforderung zu stellen. Dazu gehört für ihn zwingend ein Umdenken. Lösungen, die vor 50 oder 100 Jahren gut waren, taugen im 21. Jahrhundert vielleicht nichts mehr: „Die Zukunft ist nicht mehr die Verlängerung der Vergangenheit.“ Die Devise „einfach weiter so, wie bisher“ könne nicht mehr funktionieren: „Wir brauchen andere Lösungen als früher.“

Es gebe inzwischen eine völlig veränderte Situation gegenüber früher, sagte Winfried Kösters: „Wir haben nicht mehr genügend Leute.“ Zum Fachkräftemangel führte er eindrücklich vor Augen: „Deutschland braucht die Fachkräfte, aber die Fachkräfte brauchen Deutschland nicht.“ Das Problem bestehe darin, dass gute Leute überall auf der Welt unterkämen. Und häufig seien es überall auf der Welt die weniger guten und die weniger begabten, die bleiben.

Um zu zeigen, wie viele Leute in der Stadthalle sich für Kirchheim und für Kirchheims Zukunft interessieren und wie wenig diese Leute mit ihrer Familien- und Lebensgeschichte zu hundert Prozent in Kirchheim verwurzelt sind, schickte Winfried Kösters sein Publikum durch den Saal. Kirchheim, der Landkreis Esslingen, Baden-Württemberg, einige andere Bundesländer sowie der Begriff „Ausland“ waren die Zielpunkte der Wanderungen. Der eigene Geburtsort, der am weitesten entfernte Ausbildungsort – sei es der eigene oder derjenige der erwachsenen Kinder –, der am weitesten von Kirchheim entfernte Geburtsort eines Elternteils und der Wunschort fürs Leben im Alter waren die Gesichtspunkte, nach denen sich die Menschen im Saal immer wieder neu sortieren mussten.

Mit am interessantesten war die Erkenntnis, dass unter Hunderten von Kirchheimern diejenigen, deren Eltern beide in Kirchheim zur Welt gekommen waren, gerade einmal auf die Mannschaftsstärke eines Fußballteams kamen: elf Personen. Da die Geburt der Eltern lange in die Vergangenheit zurückreicht, zog Winfried Kösters daraus folgenden Analogieschluss für die Gegenwart: „Die Zukunft einer Stadt hängt von der Zuwanderung ab.“

Baden-Württemberg habe es bislang geschafft, eine Vielzahl an Menschen im Land zu halten. Auch das ergab sich aus der interaktiven Wanderung in der Stadthalle. Das liege an der guten Arbeitsmarktlage, stellte Winfried Kösters fest. In manchen Landkreisen sei Vollbeschäftigung üblich. Um die vielen Stellen aber immer mit den besten Leuten besetzen zu können, brauche es viele Angebote drumherum, nicht zuletzt Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.

Andererseits sei es nicht die Gruppe der Kinder unter drei Jahren, die sich am stärksten entwickle, sondern die Gruppe der Senioren über 100. Von 1990 bis 2010 habe sie um 405 Prozent zugenommen. Außer der Lebenserwartung verändere sich auch das jeweilige Lebensalter. Ein 80-Jähriger von heute sei nicht mit einem 80-Jährigen von 1960 zu vergleichen – aber auch nicht mit einem von 2040.

Dass das angestrebte Renteneintrittsalter bei 65 Jahren liegt, sei 1913 gesetzlich festgeschrieben worden. Die Berechnungsgrundlage stamme sogar noch aus der Zeit Bismarcks, sagte Winfried Kösters und fügte hinzu: „Wenn man dieselben Kriterien heute anwenden würde, dann gäbe es Rente in Deutschland erst ab 88.“

Er selbst habe im Lauf von bisher 53 Lebensjahren seit seiner Geburt rein statistisch acht Jahre an Lebenserwartung hinzubekommen – ohne eigenes Zutun. Wenn also das Rentenalter von 65 auf 67 angehoben werde, müsse er nur zwei von diesen acht Jahren zusätzlich arbeiten. Winfried Kösters plädiert deshalb für eine Rente mit frühestens 70. Aber solche Aussagen seien eben nicht populär, dessen ist er sich bewusst – vor allem nicht für Politiker, die immer befürchten müssen, bei der nächsten Wahl dafür abgestraft zu werden.

Die demografische Entwicklung ist für Kösters ein Dreiklang aus „Weniger“, „Älter“ und „Bunter“. Die Geburtenrate sorge dafür, „dass wir immer weniger werden“, die Lebenserwartung dafür, „dass wir immer älter werden“, und die Zuwanderung dafür, „dass wir immer bunter werden“. Um den Trend des „Weniger“ aufzuhalten, müssten hundert Frauen in Deutschland 208 Kinder auf die Welt bringen anstatt – wie aktuell – nur 138. Das „Älter“ belegte der Referent ebenfalls mit Zahlen: Ein Kind, das 1911 geboren wurde, hatte eine Wahrscheinlichkeit von 0,9 Prozent, 100 Jahre alt zu werden. Bei Kindern des Jahrgangs 2011 liege diese Wahrscheinlichkeit bereits bei 50 Prozent.

Beide Entwicklungen sorgen dafür, dass es in Deutschland immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt – prozentual, aber auch absolut: Seien es 2010 noch 44,6 Millionen gewesen, wären es 2050 nur noch 27 Millionen. Als Arbeitskraft brauche man dann jeden, bis hin zu Jugendlichen ohne Schulabschluss und Menschen mit Behinderung.

Das war einer der konkreten Hinweise auf die Zukunft. Ein anderer war der mit der Gleichberechtigung. Bei der heutigen Jugend gehe es längst nicht mehr darum, dass die Mädchen benachteiligt sind. Die Gesellschaft müsse sich um die Jungen kümmern. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang war die künftige Ärzteversorgung. In aller Deutlichkeit sagte der Referent: „Meine Herren, die Urologin ist Ihre Zukunft!“

In vielen Bereichen gehe es darum, umzudenken – so wie einst Dick Fosbury, der 1968 in Mexiko bei seinem Flop die Hochsprunglatte nicht bäuchlings, sondern rücklings überquerte. – Zu solch unkonventionellem Umdenken forderte immer wieder auch das Duo vom „fast forward theatre“ auf, spielerisch und unterhaltsam. Selbst für die Hallenbadproblematik in Kirchheim fanden Martin Esters und Antje Kessler spontan eine unkonventionelle Lösung: den Marktbrunnen mit immer mehr Wasser füllen und schließlich den ganzen Marktplatz überdachen. Zugegeben: Ganz so einfach wird es nicht funktionieren, aber immer in den alten Gleisen weiterzufahren, ist auch nicht mehr der geeignete Weg zum Ziel.

 

Weitere Möglichkeiten zur Beteiligung am Zukunftsdialog bestehen für die Bürgerschaft beim Workshop am Freitag, 7. November, sowie beim Bündelungstermin am Freitag, 23. Januar – jeweils von 16 bis 21 Uhr in der Stadthalle.

Rente dürfte es erst mit 88 gebenInfo
Rente dürfte es erst mit 88 gebenInfo

Kassandras RufKommentar

Kassandra hat das Problem, dass keiner ihre Warnungen ernst nimmt. Sie kann den Untergang Trojas, den sie klar voraussieht, nicht verhindern, weil ihr niemand zuhört. – Wer auf die Umwälzungen durch den demografischen Wandel hinweist, dem geht es ähnlich. Winfried Kösters zeigt auf, dass sich niemand dem Thema entziehen kann und dass auf allen denkbaren Gebieten Handlungsbedarf besteht. Ob irgendjemand deshalb wirklich handelt, ist fraglich.

Einen Vorteil gegenüber Kassandra hat Kösters jedenfalls: Die Leute hören ihm zu. Denn geschickt verpackt er seine Botschaft in ein kurzweiliges „Infotainment“. Anstatt langweilige Grafiken an die Wand zu werfen, lässt er sein Publikum im Saal wandern. Und so zeigt er Migrationsbewegungen auf, anhand konkreter Beispiele der Menschen vor Ort. Das ist unterhaltsam und spannend. Aber es ist auch sehr manipulativ: Durch die Festlegung auf Angehörige, die am weitesten entfernt von Kirchheim sind, lässt sich natürlich aufzeigen, dass fast alle einen Migrationshintergrund haben. Ganz anders sähe das Ergebnis aus, würde man die Gegenprobe machen und nach denjenigen Angehörigen schauen, die möglichst eng mit Kirchheim verbunden sind.

Trotzdem bleibt unbestritten, dass der demografische Wandel die Gesellschaft vor große Herausforderungen stellt. Wie sich diese Herausforderungen meistern lassen, kann auch Winfried Kösters nicht vorhersehen. Diese Aufgabe bleibt den Kirchheimern überlassen – denjenigen, die sich in der Stadthalle zu Kirchheim bekannt haben: dazu, dass sie hier auch noch im Alter leben möchten.

Auf die Frage beispielsweise, ob Kirchheim ein Hallenbad braucht, hat die Demografie gänzlich entgegengesetzte Antworten parat. Einerseits müssen die Kinder, die gar nicht geboren werden, auch nicht schwimmen lernen. Andererseits ist jedes Kind, das geboren wird, so wichtig, dass es nicht als Nichtschimmer der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt werden darf. Es soll vielmehr seine 50:50-Chance wahrnehmen können, hundert Jahre alt zu werden.

Aber dann darf es nicht mit 65 Jahren aufhören zu arbeiten. Sonst sagt die Demografie nämlich ganz klar voraus: Kirchheim braucht kein Hallenbad, weil es die paar Einwohner, die in 20 bis 30 Jahren noch erwerbstätig sind, finanziell nicht über Wasser halten können. Diese Botschaft ist allerdings schon wieder zu kassandrisch. Keiner will sie heute wirklich hören – selbst wenn sie noch so witzig verpackt wäre.