Lokales

Vom Kaukasus nach Kirchheim

Julia Mammadova ist vor zehn Jahren aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen (6)

Julia Mammadova lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Foto: Jean-Luc Jacques
Julia Mammadova lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Zwischen S-Bahn-Gleisen und Hegelstraße liegt eine kleine Siedlung, die ihren Namen dem nahe gelegenen Teilort verdankt: Der Lindorfer Weg. Zwischen den Mietshäusern, die aussehen, als könnten sie einen Anstrich vertragen, trocknet Wäsche in der Sonne. Auf den Klingelschildern stehen türkische, arabische und russische Namen. Der Lindorfer Weg ist für Kirchheim das, was Neukölln für Berlin ist – nur ohne Randale und erheblich kleiner.

Hier wohnt auch Julia Mammadova mit ihrem Mann. Mit vielen Menschen aus anderen Kulturen zusammenzuleben, das kennt die gebürtige Aserbaidschanerin aus der eigenen Familie. „Mein Vater ist Aserbaidschaner, meine Mutter Russin, ich selbst bin Muslima, mein Mann ist Jude“, erzählt die 62-Jährige, die, wie ihr Mann, ihre Religion nicht praktiziert. Dennoch fühlt sie sich im Lindorfer Weg nicht recht wohl – hauptsächlich, weil sich in ihrem Mietshaus kaum einer für die Reinigung der Gemeinschaftsflächen verantwortlich fühlt. „Die Wohnung ist schon okay, aber der Flur ist immer schmutzig“, sagt sie. Sobald sie eine andere Wohnung findet, will sie ausziehen.

Die Kehrwoche, diese typisch württembergische Institution, gibt es in Julia Mammadovas Leben seit mittlerweile zehn Jahren. So lange ist es her, dass sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen nach Kirchheim gekommen ist. Eigentlich wollte die Familie nicht aus Aserbaidschan weg, aber als der Konflikt mit dem Nachbarland Armenien um die Region Bergkarabach erneut aufflammte, bekam es Julia Mammadova mit der Angst zu tun. „Meine Söhne hätten zum Militär gemusst“, sagt sie. Die Familie packte ihre Koffer – und bekam in Deutschland sofort eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.

Die erste Zeit in der neuen Heimat war nicht leicht. Alles war anders in Deutschland: Das Wetter – Aserbaidschan hat ein ähnliches Klima wie die Türkei – die Sprache, die Bürokratie. „Wir waren ja nicht mehr die Jüngsten“, sagt die 62-Jährige. „Und einen alten Baum verpflanzt man eigentlich nicht.“ Nach zehn Jahren sind Julia Mammadova und ihr Mann, der als Ingenieurmechaniker bei einer Firma in Notzingen arbeitet, in Kirchheim heimisch geworden. Einen Wermutstropfen gibt es jedoch: In ihrem Beruf durfte Julia Mammadova, die in Aserbaidschan Lehrerin für russische Sprache und Literatur war, nicht mehr arbeiten, weil die Qualifikation nicht anerkannt wurde.

Langweilig wird ihr in Kirchheim dennoch nicht. In der Konrad-Widerholt-Schule arbeitet sie als ehrenamtliche Jugendbegleiterin, außerdem engagiert sie sich im Integrationsausschuss der Stadt. Wenn montags im Kirchheimer Rathaus die russischsprachige Beratungsstelle ihre wöchentliche Sprechstunde hat, ist Julia Mammadova mit dabei und hilft ihren Landsleuten und anderen Russischsprechenden durch den Bürokratiedschungel. Im Isolde-Kurz-Haus in Ötlingen bietet sie gemeinsam mit anderen Frauen einen Kaffeenachmittag an. „Dort gibt es viele ältere russischsprechende Damen, die sich einsam fühlen“, erzählt sie. Mit Gesprächen und Ausflügen sorgen die Frauen für ein wenig Abwechslung in ihrem Alltag. In ihrer freien Zeit widmet sich Julia Mammadova der Musik. Gemeinsam mit ihren Söhnen führt sie bei Festen und in Gemeindezentren russische Romanzen auf – die Mutter singend, die Söhne an der Gitarre. Außerdem probt sie einmal in der Woche mit dem russischen Chor „Melodia“. So viel Nostalgie muss sein.

Zurück will Julia Mammadova eigentlich nicht, auch wenn sie sich mit Aserbaidschan immer noch verbunden fühlt. Die Söhne, die beide in Stuttgart wohnen, sind in Deutschland integriert. Der Ältere ist mit einer Ärztin, die in Esslingen arbeitet, verheiratet. Der jüngere, der in Esslingen das Abendgymnasium besucht hat und in Leonberg eine Ausbildung zum Verwaltungsangestellten macht, hat mittlerweile sogar den deutschen Pass. Julia Mammadova und ihr Mann zögern noch. Nicht, weil sie den deutschen Pass nicht wollen, sondern, weil ihnen vor dem Wissenstest graut.