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Abwesender Angeklagter sorgt für absurdes Theater

Prozess wegen Volksverhetzung endet mit Freispruch für einen schuldunfähigen 80-Jährigen

Berechtigte Zweifel an seiner Schuldfähigkeit haben gestern dazu geführt, dass ein 80-Jähriger im Kirchheimer Amtsgericht freigesprochen wurde. Er hätte sich wegen Volksverhetzung verantworten müssen, hatte es aber vorgezogen, nicht persönlich vor Gericht zu erscheinen.

Andreas Volz

Kirchheim. „Warten auf Godot“: So heißt das bekannteste Stück des absurden Theaters, und zu diesem Stück gab es gestern im Gerichtssaal zahllose Parallelen. Begonnen hatte es mit dem vergeblichen Warten auf den Angeklagten. Noch nicht einmal seinem Verteidiger war es bis dato gelungen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Alle möglichen Schreiben hatte der Angeklagte ignoriert.

Nach fast einer Stunde, nach polizeilicher Unterstützung und nach einem Telefonat mit dem Angeklagten dann eine weitere Parallele zu Beckett: Genau wie Godot würde der Angeklagte definitiv nicht am vereinbarten Ort erscheinen. Der Unterschied: Diese Tatsache war wenigstens einigermaßen frühzeitig klar.

Die größte Übereinstimmung zu Samuel Becketts Werk bestand im Absurden und Abstrusen sowie in der Frage nach Wahrheit, Wirklichkeit und Wahn. Absurd und abstrus sind die Ansichten des Angeklagten. Esoterische wie religiöse Elemente spielen in seiner Wahrnehmung der Welt ebenso eine Rolle wie der Glaube an Ufos und eine generelle Ablehnung des „Systems“ und der „dunklen Mächte“, die mit dem „System“ verstrickt sind. Politik und Justiz kann er so wenig akzeptieren wie den Staat, in dem er lebt. Seine besondere Abneigung gilt der Regierung Kohl wie auch der Person des einstigen Bundeskanzlers.

Das alles wäre nicht ganz so furchtbar schlimm für die Allgemeinheit. Sie hätte es lediglich mit einem wirren Sonderling zu tun, den es zu bemitleiden gälte. Es kommt aber noch ein weiteres Element seines Weltbilds hinzu: Er ist fest davon überzeugt, dass das Ufo, an das er glaubt, mit ominösen „Reichsdeutschen“ bestückt ist, die einen Kampf gegen alles andersartige führen, zum Beispiel gegen die Amerikaner, aber auch gegen die Russen. Das russische Atom-U-Boot „Kursk“ etwa sei gesunken, weil es vom „reichsdeutschen“ Ufo aus angegriffen worden war.

Auch diese Ansicht wäre strafrechtlich noch nicht relevant. Nun hat der 80-Jährige aber auch seine eigenen Vorstellungen von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Beide Weltkriege seien den Deutschen aufgezwungen worden, insbesondere von Verschwörern, und zwar von jüdischen. Dazu gehört für ihn die Überzeugung, dass der Holocaust nie stattgefunden habe. Adolf Hitler hätte außerdem mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden müssen, meint der Angeklagte.

Noch immer wäre das alles allenfalls eine persönliche Tragödie, wenn er seine Meinung für sich behalten würde. Seine „Wahrheit“ ist ihm aber so wichtig, dass er sie verbreiten muss. Aus dem Internet und aus irgendwelchen Druckwerken vervielfältigt er Texte mit allen möglichen abstrusen Inhalten und wirft sie anschließend persönlich in diverse Briefkästen – bei Privatpersonen, bei Rathäusern, beim Amtsgericht. Weil er seine Mitmenschen ehrlich „informieren“ will, schreibt er seinen Namen und seine Adresse dazu. Als Grußformel bedient er sich eines „Sieg Heil“. So kommt zum Vorwurf der Volksverhetzung auch noch der des Verwendens von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen hinzu.

Seine Taten bestreitet der 80-Jährige keineswegs. Und wenn er schuldfähig wäre, gäbe es keinen Zweifel daran, dass er deswegen gestern auch verurteilt worden wäre. Aber was ist normal und was ist krank? Was ist Schuld, was ist Einsicht in diese Schuld und was ist Schuldfähigkeit? Diese Fragen beantwortete ein psychiatrischer Gutachter, der – von einem Polizeibeamten als Zeugen abgesehen – der einzige Akteur im Gerichtssaal war, der jemals längere Zeit von Angesicht zu Angesicht mit dem Angeklagten gesprochen hat. Er bescheinigte dem 80-Jährigen, „psychosozial sehr isoliert“ zu sein. Er sei „logischen Argumenten nicht zugänglich“, seine Gedankenwelt sei „bizarr“. Er leide unter einer „anhaltenden krankhaften Störung“ und sei „auf wahnhafte Überzeugungen fixiert“. Nach früherer Terminologie würde man von einer „Paranoia“ sprechen.

Die entscheidende Aussage des Gutachters lautete, dass sich eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen lasse. Daraus ergab sich für den Staatsanwalt wie auch für den Verteidiger und die Richterin, dass der Angeklagte freizusprechen war, weil nicht sicher von einer Schuldfähigkeit ausgegangen werden konnte.

Letzte Parallele zu „Godot“: Die meisten Theater, die das Stück aufführen, sind staatlich subventioniert. Durch den Freispruch, der nicht zu vermeiden war, kommt der Staat nun auch für die Kosten des Verfahrens im gestrigen Fall auf. Fraglich bleibt, ob es der 80-Jährige richtig zu schätzen weiß, dass das verhasste „System“ hier sehr zu seinen Gunsten urteilte.