Lokales

Das „Ja zum Leben“ – dem toten Kinde zur Ehre

Angelika Nill erzählt in dem Buch „Alles ist anders“ vom Unfalltod ihres Sohns und von ihrem Umgang mit Schmerz und Trauer

Es gibt ganz unterschiedliche „Wege durch die Trauer beim Tod eines Kindes“. Die Autorin Angelika Nill zeigt solche Wege auf.Arc
Es gibt ganz unterschiedliche „Wege durch die Trauer beim Tod eines Kindes“. Die Autorin Angelika Nill zeigt solche Wege auf.Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Wie lässt sich das Unfassbare fassen? Wie lässt sich das Untragbare ertragen? Und wie lässt sich das Unsagbare sagen? Unfassbar ist die Nachricht vom schweren Unfall des eigenen Kindes, untragbar ist einige Tage später sein

Tod im Krankenhaus und unsagbar ist das, was daraus folgt: Trauer, Leid, Schmerz, Wut, Verzweiflung, Schuldgefühle. Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt, die Angelika Nill in ihrem Buch „Alles ist anders“ beschreibt. Der Titel ist nicht nur sehr poetisch, sondern auch sehr persönlich: Es ist ein Zitat aus einem Text, den ihr Sohn Achim geschrieben hat – ungefähr ein Jahr, bevor er im Alter von elfeinhalb Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls gestorben ist.

15 Jahre nach dem Tod ihres jüngsten Sohns hat Angelika Nill das Buch über ihre Erlebnisse und Erfahrungen veröffentlicht. Es ist ein schmaler Band, und schon allein die Form gibt eine Antwort auf die Frage, wie sich das Unsagbare sagen lässt: Mit möglichst wenigen Worten. Ungekünstelt. Einfach, aber nicht simpel oder gar plump. Wichtig aber ist es, dennoch etwas zu sagen, und sei es auch ohne Worte. Eines nämlich war ein zentraler Satz bei Angelika Nills Lesung in der Kirchheimer Stadtbücherei: „Es hat mir geholfen, wenn jemand mit mir über mein Kind gesprochen hat.“

Wenn andere dagegen den Tod des Kindes als Tabu behandelt haben, aus Furcht, das Falsche zu sagen, oder auch aus Furcht, das Schmerzhafte überhaupt anzusprechen, dann war das in den Augen der Mutter „fast ein Verbrechen“. In aller Deutlichkeit stellt sie fest: „Das geht nicht.“

Im Buch und in der Lesung erzählt sie, wie ein Jahr nach Achims Tod drei seiner Freunde zu ihr gekommen sind. Gemeinsam habe sie sich mit den Zwölf- bis 13-Jährigen über Achim unterhalten. Im Buch heißt es, in persönlicher Anrede: „Ich erfuhr, was du alles angestellt hast, wie sie deine originellen Ideen bewundert haben, und wir lachten, lachten herzlich über dich wilden Kerl. Das war eine der schönsten Weisen, an dich zu denken und dich zu würdigen.“

Wenn das Sprechen schwer fällt, gibt es noch andere Möglichkeiten, sich auszudrücken. Zum einen wären da der stumme Händedruck, das stille Umarmen, der verstehende Blick. Zum anderen gibt es das Schreiben. Davon berichtet Angelika Nill im Anschluss an die Lesung : „Ich denke, für mich war es sehr schön, wenn die Leute mir etwas geschrieben haben. Das kann man sich in Ruhe anschauen, das kann man nachlesen. Man hat Zeit.“

Angelika Nill hat schließlich auch selbst geschrieben, für sich selbst und für andere. Denn aus eigener Erfahrung sagt sie: „Das Intellektualisieren in der Trauer konnte ich nicht ertragen. Das langatmige Erklären des medizinischen Befunds brauchen Sie nicht. Mich hat nur ein Buch interessiert, das konnte ich lesen: Geschrieben von einer Französin, die beide Kinder auf der Autobahn verloren hat. Das hat mich angesprochen.“ Alles andere könne sie jetzt lesen, mit dem zeitlichen Abstand von anderthalb Jahrzehnten.

Ihr Buch hat sie in zwei Teile gegliedert: ihre eigenen Erlebnisse und Grundsätzliches. Im persönlichen Teil folgt sie jenem Text, den sie als „Vermächtnis“ ihres Sohns ansieht: „Im Nachhinein betrachtet war sein Text, den er mir geschenkt hat, eine Vorbereitung auf das Kommende“, schreibt Angelika Nill. Geschrieben hatte er den Text nach dem Tod seines Opas, einfach so, aus sich heraus. Die tiefen Gedanken, die der gut Zehnjährige da gefunden hat, würden aber nicht bedeuten, dass er ein weltabgewandter Grübler war. Ihr Sohn sei sehr lebhaft gewesen, fast schon draufgängerisch. Und dennoch sind da diese philosophischen Fragen und Gedanken eines Kindes: „Himmel? Gibt es das überhaupt? Man hört viel vom Himmel. (Wie er sein soll). Doch der Himmel ist nicht ein Besuch für ein paar Tage. Er ist die Ewigkeit.“

Das Diesseits und das Jenseits trennt Angelika Nill aber nicht klar voneinander ab. Einerseits sagt sie, dass Trauer nicht nur sein darf, sondern auch sein muss. Wenn die Erinnerung zu Tränen führt, sind diese Tränen wichtig. Die Tränen gehen auch wieder. Aber sie sollten nicht zurückgehalten werden. Und vor allem sollte man sich das Erinnern deswegen nicht versagen. Andererseits aber will Angelika Nill im Untertitel ihres Buchs „Wege durch die Trauer beim Tod eines Kindes“ aufzeigen.

Wege „durch“ die Trauer können auch Wege „mit“ der Trauer sein. Die Trauer höre nämlich nicht auf, sondern begleite einen immerzu. Aber Angelika Nill rät dazu, „den Sog hin zum verstorbenen Kind“ in ein „Ja zum Leben“ zu verwandeln. Das geschehe im Sinne des Verstorbenen. Der wolle nämlich ganz bestimmt nicht, dass seine Angehörigen – die er liebte wie sie ihn – sich ihr restliches Leben lang nicht mehr trauen, zu lachen, fröhlich zu sein und sich an schönen Dingen zu freuen. Mit dem Verstorbenen gemeinsam gelte es, das Weiterleben zu meistern. Bei verstorbenen Eltern helfe es, sich diese im Rücken vorzustellen, wie sie hinter einem stehen. Verstorbene Geschwister hätten häufig den Platz an der Seite, verstorbene Kinder dagegen den Platz im Herzen.

Lebensbejahend rät Angelika Nill Eltern zu ritualisierten Worten, die sich – entsprechend abgewandelt – auch für Geschwister eignen: „Du bist gegangen und ich achte deinen Tod. In meinem Herzen lebst du weiter und ich verspreche dir, ich lebe und ich mache was aus meinem Leben, dir zur Ehre, mein Kind!“

Lebensbejahend fröhlich endete in der Bücherei auch die Begleitmusik durch das Flötenensemble „Intakt“. Angelika Nill bezeichnete auch die Musik als große Hilfe im Umgang mit Schmerz und Trauer. Außerdem ist die Lebensbejahung im Motto der gesamten Veranstaltungsreihe zu finden: „Stille Tage – lebendig Abschied nehmen“. Innerhalb der Reihe gibt es am Freitag, 14. November, noch einmal die Gelegenheit, Angelika Nill zu hören und mit ihr ins Gespräch zu kommen. Beginn der Veranstaltung in der Alten Seegrasspinnerei in Nürtingen ist um 19 Uhr.