Lokales

Notfallpraxis liegt im Sterben

Die Einrichtung in der Nürtinger Heiligkreuzstraße schließt zum 30. September

Wer sich in Nürtingen und Umgebung am Wochenende schlecht fühlt oder krank wird, muss sich bald umstellen. Die Notfallpraxis in der Heiligkreuzstraße 22 schließt zum 30. September. Wie es danach weitergeht, weiß noch keiner. Es drohen weite Fahrten. Oder es findet sich im Krankenhaus auf dem Säer eine Lösung.

Die Tage der Nürtinger Notfallpraxis in der Heiligkreuzstraße¿22 sind wohl gezählt. Foto: Jürgen Holzwarth
Die Tage der Nürtinger Notfallpraxis in der Heiligkreuzstraße¿22 sind wohl gezählt. Foto: Jürgen Holzwarth

Nürtingen. Das Wort „Pleite“ wollen die Sprecher der über 100 Gesellschafter genauso wenig hören wie den Begriff „Insolvenz“. Dr. Martin Häberle formuliert es so: „Wir haben seit Langem mehr Ausgaben als Einnahmen. Bis zum staatlichen Eingriff im Rahmen eines Insolvenz verfahrens wollen wir es nicht kommen lassen. Deswegen ist zum 30. September definitiv Schluss.“

Aber wie kann eine Einrichtung, die über mangelnde Akzeptanz nicht zu klagen braucht und es pro Diensttag nach wie vor im Schnitt auf 53 Einsätze bringt, derart in die Schieflage geraten? Dr. Utz-Friedrich Blickle, Sprecher der Gesellschafter, führt dies nicht zuletzt auf das neue Honorarverteilungsverfahren zurück, das vor zwei Jahren zu erheblichen Verwerfungen im Bundesgebiet geführt habe – zum Nachteil von Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz, wo der sogenannte „Fallwert“ um 20 Prozent abgesunken sei.

Sein Vize Häberle erläutert den Hintergrund. Bei der Gründung der gemeinsamen Notfallpraxis für Nürtingen sowie das Neuffener Täle, Aich- und Neckartal („Damals waren wir die Ersten südlich von Stuttgart“) habe es noch einen Festpreis für jede ärztliche Leistung gegeben. Mit dem neuen Modell schwankten diese Honorare aber stark. Und zudem seien mit der Einführung der 10 Euro Praxisgebühr auch die Patientenzahlen zurückgegangen.

Nürtingen ist übrigens nicht die einzige Einrichtung dieser Art, die es hart getroffen hat. Laut Häberle arbeiten von den 68 Notfallpraxen im Nordteil des Landes 98 Prozent defizitär: „Wir haben noch relativ lange durchgehalten, aber jetzt ist einfach der Punkt erreicht, wo es nicht mehr so weitergehen kann.“

Laut Blickle verbreitet zwar die neue Führung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg einen gewissen Hoffnungsschimmer: „Die wollen zurück zum Festpreis-Modell.“ Aber bis das durchgekämpft sei (wenn überhaupt), daure viel zu lange: „Die Zeit läuft uns davon.“

Laut Häberle ist die Einlage der Gesellschafter von je 600 Euro schon jetzt aufgebraucht und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Eine ähnliche Summe müssten die beteiligten Ärzte nachschießen, um die Insolvenz zu vermeiden. „Das heißt aber nicht, dass damit die Liquidation vermieden wird“, sagt Blickle. Und man will den Exitus auch nicht aufhalten: „Es ist nicht einzusehen, dass die Ärzte den Notfalldienst, der ja ein öffentlicher Auftrag ist, aus eigener Tasche subventionieren.“ Wie es noch weitergeht, ist laut Häberle nicht zuletzt abhängig von der Frage, „wer sich dafür verantwortlich fühlt und von den Vorgaben, was ein ärztlicher Notfalldienst zu tun hat“.

Laut Richtlinien sei ein Weg von 30 Kilometern zu einer solchen Einrichtung zumutbar, sodass für den Kreis Esslingen von daher im Grunde eine einzige reiche. – Tut sich nichts, müssen die Menschen aus dem Verbreitungsgebiet unserer Zeitung demnächst entweder nach Kirchheim oder Bonlanden fahren, um diesen Dienst in Anspruch nehmen zu können: „Politik und Kassen müssen nun entscheiden, was die ortsnahe Versorgung der Patienten wert ist.“

Blickle versichert derweil, man bemühe sich massiv um eine Lösung: „Keinem von uns ist wohl, wenn die Patienten so weit fahren müssen. Aber wir müssen ein Zeichen setzen, dass es so nicht weitergeht.“ Es werde gewiss keine Lex Nürtingen geben: „Aber wir sind jetzt die Ersten, die mal ein Zeichen setzen.“ Der Vorstand habe nämlich keine Lust, eines Tages für eine Insolvenzverschleppung haftbar gemacht zu werden. Schon früher hatte es ja Gespräche gegeben, die Notfallpraxis auf den Säer zu verlegen. Noch in der Rohbauphase der neuen Klinik habe man verhandelt, „aber dann war uns das doch zu waghalsig“. An der Miete liege weder die jetzige Misere noch der damalige Abbruch der Kontakte: „Die sind bei den Kosten der kleinste Pos ten.“ Häberle vermutet auch, dass die Kreiskliniken diese Aufgabe „mit dem jetzigen Personal nicht schultern können – die müssten aufstocken“. Zudem könne man da nicht einfach Assistenzärzte hinsetzen. „Bei uns sind alle diensthabenden Kollegen Fachärzte für allgemeine oder innere Medizin.“

Die Lage scheint also (zumindest im Moment noch) verfahren. Franz Winkler, der Geschäftsführer der Kreiskliniken, zeigt sich zwar gesprächsbereit. „Ich habe erneut einen Anlauf unternommen, miteinander zu reden. Wir sind daran interessiert, die Notfallpraxis gemeinsam auf dem Säer anzubieten“, bestätigte er. Konkretes konnte (oder wollte) er indes nicht sagen: „Wir müssen sehen, wie man das organisatorisch hinkriegt. Wir brauchen eine mach- und gangbare Lösung.“ Es sei aber auch klar, dass die Vergütung dieses Dienstes nicht Sache der Kreiskliniken sei.

Im Moment ist Geschäftsführer Franz Winkler allerdings erst mal im Urlaub. Bis er zurückkommt, geschieht vorerst nichts.