Lokales

„Schlecht ausgehandelte Verträge“

Podiumsdiskussion über „Die Zukunft des Nahverkehrs in der Region“ in der Linde

Erstaunlich einig waren sich die Vertreter quer durch alle Parteien, was den Nahverkehr in der Region Stuttgart angeht. Die Thematik ist derart kompliziert, dass nur Fachleute durchblicken. Ein Ausdruck dafür ist das beispiellos komplexe Tarifsystem und die ebenso beispiellos hohen Preise.

Auf dem Podium zum Thema Nahverkehr saßen Wolfgang Hoepfner, Die Linke, Dr. André Reichel, Die Grünen, Helmut Hartmann, SPD, Mod
Auf dem Podium zum Thema Nahverkehr saßen Wolfgang Hoepfner, Die Linke, Dr. André Reichel, Die Grünen, Helmut Hartmann, SPD, Moderator Christoph Tangl, Dr. Felix Tausch, CDU, Günter Riemer, Freie Wähler, und Albrecht Braun, FDP (von links nach rechts). Foto: Markus Brändli

Iris Häfner

Kirchheim. Der Nahverkehr in der Region ist nicht nur wegen Stuttgart 21 ein Reizthema für die Region. Engpässe, Ausfälle, Verspätungen – mit all dem müssen sich die Nutzer wegen der Bauarbeiten zu Stuttgart 21 und der ICE-Neubaustrecke Stuttgart-Ulm abfinden. Und das zu einem nicht gerade vorbildlichen Service, weil die Region keine optimalen Verträge mit der Bahn abgeschlossen hat, wie es ein Podiumsteilnehmer ausdrückte.

Das Kirchheimer Bündnis für K 21, der BUND Kirchheim und der DGB Kirchheim haben zum Informations- und Diskussionsabend „Die Zukunft des Nahverkehrs in der Region“ in die Linde in Kirchheim mit Vertretern aller Parteien der Regionalversammlung eingeladen, und erstaunlich viele interessierte Bürger kamen an diesem lauen Frühlingsabend im Mehrgenerationenhaus zusammen. Schließlich stehen im Mai nicht nur Ortschafts-, Gemeinderats- und Kreistagswahlen an, sondern auch das Regionalparlament wirbt um die Gunst der Wähler.

Der Einladung gefolgt waren Albrecht Braun, FDP, Helmut Hartmann, SPD, Wolfgang Hoepfner, Die Linke, Dr. André Reichel, Die Grünen, Günter Riemer, Freie Wähler, und Dr. Felix Tausch, CDU. Jeder der Teilnehmer bekam fünf Minuten für sein Statement zugesprochen, das Los entschied über die Reihenfolge. Gleich der erste Redner, André Reichel, brachte die Querverbindungen zur Sprache, die fernab der S-Bahn interessant sind, etwa eine Buslinie von Göppingen über Kirchheim/Wendlingen nach Stuttgart. Dann kam er auf die Preise im Öffentlichen Personennahverkehr zu sprechen. „Allein im Kreis Esslingen gibt es 15 Tarifzonen. Das ist nicht benutzerfreundlich“, stellte er klar und sprach sich für eine Vereinfachung aus. Teuer ist dieses Tarifsystem vor allem für die Nutzer der Kirchheimer S-Bahn – insbesondere bei Einzeltickets –, denn hier ist Endstation.

Keinen Hehl, wofür sein Herz schlägt, machte Wolfgang Hoepfner von den Linken, Stadtbahnfahrer in Stuttgart. Der Schiene gehöre die Zukunft, was ein aktuelles Gutachten bestätige. Deshalb sprach er sich für die seit Schienen-Urzeiten geplante Trasse Kirchheim-Weilheim-Bad Boll-Göppingen aus, ebenso für ein Sozialticket, denn Hartz IV-Empfänger oder Arbeitslose seien die Klientel, die am wenigsten den vor allem bei Einzeltickets extrem teuren Nahverkehr in der Region Stuttgart nutzen. Als Insider wusste er um viele Vor- und Nachteile des Nahverkehrs und mahnte Nachverhandlungen mit der Bahn wegen schlecht ausgehandelter Verträge an. Diese Einschätzung bestätigte sich bei der anschließenden Diskussion, etwa als es um nicht funktionierende Aufzüge ging, die für Rollstuhlfahrer unerlässlich sind, oder ein fehlendes Leitsystem für blinde Menschen.

Als Opfer des eigenen Erfolgs bezeichnete Felix Tausch den Nahverkehr in der Region. „Das System ist am Anschlag“, erklärte er. Zwar freue sich jeder Autofahrer über jeden Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel, doch darüber dürfe der Ausbau von A 8 und B 27 nicht vergessen werden. „Intelligente Verzahnung verschiedener Verkehrsmittel“ sei deshalb das Gebot der Stunde, ebenso die Ausweisung neuer Bau- oder Industriegebiete entlang bestehender Verkehrsinfrastruktur.

Albrecht Braun ging in seinen Statements vor allem auf Abläufe innerhalb des Regionalparlaments, speziell des Verkehrsausschusses, ein. Dort laufe Vieles zwischen den Parteien einvernehmlich. Qualität kostet seiner Ansicht nach eben seinen Preis. Als Beispiel nannte er Budapest, wo die älteste U-Bahn des europäischen Kontinents ihren Dienst tut. Die Fahrpreise seien günstig, doch der Standard entspräche nicht dem hiesigen.

Im Vergleich zum Kreis Göppingen jammere Kirchheim auf hohen Niveau, erklärte Kirchheims Bürgermeister Günter Riemer. „Wir reden über ein System, das ordentlich funktioniert, aber auch das Teuerste im Land ist“, nannte er Ross und Reiter. Doch wer billige Baulandpreise nutze, müsse teure Anfahrtswege in Kauf nehmen. „Die Masse liegt auf der Straße, sowohl, was die Personen betrifft, als auch die Güter. Das sollten wir nicht vergessen. Ein modernes System nutzt Straße und Schiene“, erklärte er. Ausdrücklich gehören für ihn auch Fußgänger und Radfahrer als Verkehrsteilnehmer dazu.

„Wir haben voll und ganz auf die S-Bahn gesetzt. Das ist zwar schön, kostet die Nutzer aber viel Geld und Zeit und wir sind jetzt an die Grenzen gestoßen“, erklärte Helmut Hartmann und gab zu Bedenken, dass Regionalzüge auf langen Strecken besser angenommen werden. Nichtsdestotrotz solle der Individualverkehr so gering als möglich gehalten werden, weshalb die Kommunen vor allem auf Innenentwicklung setzen sollen. „Jeder örtliche Bäcker vermeidet Verkehr“, ist er überzeugt.

Die anschließende Diskussion zeigte, dass die Zuhörer mit dem Thema bestens vertraut waren. Bemängelt wurden die ganz realen Hürden für Rollstuhlfahrer, aber auch der mangelhafte Service vor allem bei der S-Bahn. Klar zum Ausdruck kam auch, dass insbesondere der CDU-Vertreter sich nicht mehr zu Kritik von Stuttgart 21 äußern wollte, sei es auch zu fachlichen Fragen, die technisch begründet sind. „Unser Blick ist nach vorne gerichtet. Nach der Fertigstellung von Stuttgart 21 werden wir die Herausforderungen umsetzen und unsere ganze Anstrengung darauf richten, dass sich unser Engagement in Zukunft auszahlen wird“, sagte Felix Tausch und ließ ob dieser Formulierung einige Zuhörer verwirrt zurück. Die fragten sich, ob es dann nicht ein bisschen zu spät dafür sei.