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Schwaben nahmen sich zurück, Sachsen blühten auf

Zwei völlig verschiedene Musizierstile ließen beim „Concerto“ der Stadtkapelle etwas Neues entstehen

Kirchheim. Mehr als gelungen, einfach phänomenal, umwerfend, wie die beiden Spitzenensembles Bläserphilharmonie Thum und Stadtkapelle Kirchheim ihren Abend gemeinsam beschlossen: das Konzert in der

Kirchheimer Stadthalle. Weit über hundert Spieler, dicht gedrängt auf der Bühne mit der zwar kurzen, aber rhythmisch vertrackten Passacalle der Spaniers Ferrer Ferran. Es klang wie aus einem Guss, mit unglaublicher Einfühlung aufeinander hörend reagiert. Doch war da noch etwas anderes: Nachdem die Gäste aus Sachsen ihr Programm tadellos abgeliefert hatten und sich nach der Pause die Kirchheimer Stadtkapelle auch in bester Form zeigte, war man als Zuhörer Zeuge zweier völlig verschiedener Musizierstile geworden, geformt von sehr verschiedenen Dirigentenpersönlichkeiten. Die Bläserphilharmonie Thum: jung, diszipliniert, mit schlankem Ton, immer transparent, präzise wie ein Uhrwerk, aber auch etwas kühl im Ausdruck. Ihr Maestro Thomas Conrad: unauffällig zwar, aber absolut souverän dirigierend mit sparsamen, doch eindeutigen Bewegungen, eher präzise als emotional, immer musikalisch treffend. Die Stadtkapelle Kirchheim: nicht so eindeutig uniformiert, altersmäßig viel gemischter, opulenter im Ton, variabler im Ausdruck, insgesamt lauter, gelegentlich lärmend, was die Klangfarbenunterschiede einebnete, jederzeit bereit, die musikalischen Impulse ihres Dirigenten Marc Lange in fulminanten Steigerungen und umwerfenden Attacken umzusetzen. Der Zusammenprall solcher grundverschiedener Spielkulturen müsste eigentlich in einer Katastrophe enden. Doch nichts dergleichen geschah. Vielmehr entstand etwas unerwartet Neues. Die Kirchheimer nahmen sich zurück, die Sachsen blühten auf. Das war nur möglich, weil alle aufeinander hörten, und zwar spontan – mehr als zwei Anspiel-Proben waren nicht möglich. Was sich bei den Einzelvorträgen schon deutlich herausstellte, nämlich die überdurchschnittliche Qualität beider Klangkörper, gestaltete sich beim Zusammenspiel zu einem Triumph hochmusikalischer Gesinnung, zum schönsten, was es für Menschen überhaupt gibt – beglückendem Einverständnis trotz aller Unterschiede. Es war wirklich eine Sternstunde.

Im Verlauf des Abends wurde an vielen Stellen, den gelungenen und auch weniger überzeugenden, klar, dass solche Glücksmomente nicht ohne harte Arbeit zu haben sind. Als die Bläserphilharmonie Thum mit Giuseppe Verdis Ouvertüre zu Nabucco ansetzte, stockte einem der Atem. Bei aller Akkuratesse zeigte sich Nervosität. Internationstrübungen, kleckernde Einsätze, ungewollte Misstöne bei den Holzbläsern. Ob die sympathischen Jugendlichen dem Druck standhalten würden? Der Dirigent schien jedenfalls fest davon überzeugt zu sein. Mit straffen Zügeln und mehr durch Blickkontakt als mit ausholenden Dirigierbewegungen brachte er seine Truppe auf sicheres Terrain, sodass man sich als Hörer entspannt der mitreißenden Musik hingeben konnte. Zwischen den Stücken trug der zwar „angegrippte“, aber gewinnend sympathische Sprecher viel dazu bei, dass den Sachsen schnell die Herzen zuflogen, und das, obwohl sie mit der Komposition „Extreme Beethoven“ eine Musik boten, die mehr auf Irritation aus war. Da wurden pausenlos Beethoven-Motive durch den Fleischwolf gedreht. Die Musiker spielten jedoch so perfekt, dass man lieber dem Bläsergemetzel zuhörte, als den vielen Beethoven-Zitaten, die einem durch die Erinnerung an ihren originalen Klang immer wieder aus dem Zusammenhang herausrissen. Grotesk! Das Einzige, was bei „Extreme Beethoven“ störte, war Beethoven selbst. Doch ein Detail war extrem begeisternd: der Einmarsch einer zehnköpfigen Militärkapelle in Anspielung auf den Militärmarsch im Finale der neunten Sinfonie von Beethoven. Ein Hochgenuss, zu hören und zu sehen, wie die adretten jungen Leute in ihren schmucken Uniformen die kompositorische Idee perfekt realisierten! Die Gäste aus Thum schlossen mit der Komposition des jungen Spaniers José Alberto Pina über das Bermudadreieck. Zunächst rauschte es mit großer Geste wie Filmmusik daher in wirkungsvollen Hörnermelodien. Dann kamen Naturlaute, folkloristisches Schlagzeug, Exotik eben: bis dann im Schlusssatz eine lähmende Generalspause daran erinnerte, dass in dieser rätselhaft unheimlichen Gegend Schiffe und Flugzeuge schon spurlos verschwunden seien. Ein Bravissimo für die jungen Sachsen! Sie blieben dem farbigen Stück nichts schuldig und setzten sogar noch eins drauf. In dem Knaller „Sang“ des US-amerikanischen Komponisten Dana Wilson, geboren 1946, skandierten und spielten sich die Bläser mit einem furiosen, lässigen Drive durch die höchst anspruchsvolle Partitur. Begeisterte Ovationen für die Gäste.

Für den Beginn des zweiten Konzertteils mit der Stadtkapelle Kirchheim hat er eine Originalkomposition des italienischen Komponisten Camille de Nardis ausgegraben. Es ist eine sinfonische Dichtung im italienischen Opernstil aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Durchaus vom gut 40 Jahre älteren Verdi beeinflusst, aber für Blasorchester komponiert. Neben theatralischen Effekten, wie Posaunen des jüngsten Gerichts, erklingen auch feierliche choralartige Episoden. Insgesamt eine gut organisierte und freundliche Angelegenheit, bei der Spannungsbögen wirkungsvoll zur Geltung kamen. Die quasi Vorlesung von Stefanie Rauschnabel leitete über zum rätselhaften Titel „Angels in Architecture“ von Frank Tichell. Diese Originalkomposition gab der Stadtkapelle wieder einmal Gelegenheit, sich lustvoll in größtes Getümmel, größte Feierlichkeit und größte Melodienseligkeit zu stürzen, und, last but not least, eine Sopranistin, die im Programm leider nicht genannt wurde, aber ihre Sache sehr gut machte, sensibel zu begleiten. Dass mit „Angels in Architecture“ besonders geheimnisvoll schimmernde Metallscheiben im berühmten Opernhaus von Sydney gemeint sind, konnte man der Komposition allerdings nicht entnehmen, sie hat jedoch ihren eigenen Zauber und eindrucksvollere Bilder wie zum Beispiel Klangschläuche, die von drei Schlagzeugern geschwungen, ganz überirdische Töne von sich gaben. Der Eleganz nach, mit der die signalroten Schläuche geschwungen wurden, muss man schließen, dass Engel weiblich sind, denn es war die Schlagzeugerin, die den Schwung des Klangwerkzeugs mit unwiderstehlicher Musikalität exekutierte. Darin war sie auf einer Linie mit dem Dirigenten Marc Lange. Dieser bewies einmal mehr, wie beseelt er musizieren kann.

Wie die Gäste aus Sachsen schloss die Stadtkapelle mit spanischer Musik. Der Komponist war Ferrer Ferran. Bei dem Titel Almansa, nach einer Stadt bei Valencia benannt, waren schöne Melodien zu hören, hervorragend gespielt von verschiedenen Solisten. Besonders ergreifend das Englischhornsolo im Mittelteil. Im Finale dann noch mal einen Furioso, in dem Marc Lange und seine Musiker sich einmal mehr selbst übertrafen. Mit den Klängen der sächsischen Gastkapelle im Ohr musste man sich allerdings sagen, dass es auch bei den Kirchheimern noch Steigerungsmöglichkeiten gibt. Weniger Phon, 100 dB in der zweiten Reihe sind schon an der Schmerzgrenze, dafür mehr Präzision, weniger ungebremste Emotion, dafür mehr Intonation, schon das Einstimmen war bei den Sachsen besser. Doch das ist auf höchstem Niveau geklagt.

Was das diesjährige „Concerto“ der Stadtkapelle auszeichnete, war freundschaftliches Kräftemessen mit unvergesslichen Sternstunden.