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Sekundenoper und SelbstreflektionInfo

Spannende Lesung mit dem Schauspieler Walter Sittler und Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold

Die Buchhandlung Zimmermann hatte den Schauspieler Walter Sittler und den ehemaligen Greenpeace-Chef Gerd Leipold nicht vergeblich zur Lesung eingeladen. Die Kirchheimer Schlosskapelle war bis auf den letzten Platz besetzt, die Wogen der Sympathie für die beiden Autoren waren deutlich zu spüren.

Verleger Martin Mühleis, Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold und der Schauspieler Walter Sittler (von links) bei ihrer Lesung in der
Verleger Martin Mühleis, Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold und der Schauspieler Walter Sittler (von links) bei ihrer Lesung in der Schlosskapelle

Kirchheim. Im Wechsel lasen Sittler und Leipold aus ihrem im November erschienen Buch „Zeit, sich einzumischen“. Für jedes der neun Kapitel haben die beiden sich an einem anderen Ort getroffen – an Orten wie dem Istanbuler Taksimplatz, an denen Menschen Mitspracherecht einfordern. Sittler und Leibold sprachen mit Aktivisten, Journalisten und mit Politikern wie Reykjaviks Bürgermeister Jón Gnarr. In Island, „wo der Sommer so ist wie in einem Kühlschrank, den man sechs Wochen lang offen stehen lässt“, das aber als Land ein Vorbild für Zusammenhalt und Bürgerbeteiligung ist – und für Gleichberechtigung, denn zum Überleben unter unwirtlichen Bedingungen wurden schon immer zwei gebraucht. „Für Frauen ist es das beste Land der Welt.“

Noch interessanter als das Buch war so manches, was der Verleger Martin Mühleis den Autoren im Gespräch entlockte. Wie ist es, wenn ein Profi von Greenpeace mit einem Amateur-Engagierten zusammenarbeite? „Walter Sittler ist ein Profi-Protestler geworden“, bescheinigte Leipold einem der prominentesten Gesichter des Stuttgart 21-Widerstands. Über die Heftigkeit der Reaktionen war Sittler damals etwas überrascht. Bei Grün-Rot sei er gut gelitten gewesen – bis er gegen den Bahnhof war. Einzelne Veranstaltungen wurden abgesagt, manche Leute sahen für den Schauspieler nun keine Verwendung mehr. Sittler nahm es gelassen. Bereut habe er sein Engagement noch keine einzige Minute.

Der Vorwurf, man solle seine Popularität nicht ausnutzen, komme immer von denen, auf deren Seite man gerade nicht stehe, meinten die Autoren. Leipold zog Parallelen zwischen dem Theater und der Arbeit von Greenpeace. Auch bei deren Aktionen gehe es um „großes Theater“, um „Opern in wenigen Sekunden“. Es gehe darum, die rote Linie einer Gesellschaft bewusst und im richtigen Ausmaß zu überschreiten. Spektakuläre Aktionen seien gut, wenn es für ein Problem in der Gesellschaft noch gar kein Bewusstsein gebe.

Leipold warnte davor, sich von der Euphorie treiben zu lassen. „Jede Bürgerbewegung braucht eine kritische Selbstreflektion.“ Ob ihn der S21-Protest der Schwaben überrascht habe? „Nein, man kann nicht vorhersehen, wo Proteste beginnen.“ Leipold glaubt nicht, dass Wirtschaft und Politik früher sauberer waren. „Wir wissen nur heute mehr darüber.“ Das viele Wissen und die vielen wechselnden Themen hätten aber auch einen Nachteil. „Skandale sind leichter auszusitzen als in der Vergangenheit“, stellte Sittler fest. Sittler betonte die Wächterfunktion der Presse. „Wir Bürger sind mit verantwortlich, dass wir eine freie Presse haben, indem wir für Informationen bezahlen.“ Frei ist auch Greenpeace, weil die Organisation kein Geld von Wirtschaft und Regierungen nimmt. „Man muss nicht freundlich sein, um mehr Geld zu bekommen“, sagte Leipold.

Freundlich war Leipold auch nicht zu Steve Jobs. Im Buch bescheinigt er dem Apple-Gründer fast einen Verfolgungswahn. Jobs konnte einfach nicht glauben, dass hinter der Greenpeace-Kampagne gegen giftige Stoffe in der Elektronik keine bösartigen Konkurrenten steckten. Im persönlichen Gespräch mit Leipold explodierte er wie ein Vulkan. Wie mit ihm sei Jobs wohl auch mit anderen umgegangen, meinte Leipold. Der heutige Apple-Chef Tim Cook saß beim Gespräch dabei und sagte kein Wort. Vielleicht dachte er anders als Jobs. „Apple bewegt sich“, stellte Leipold nun anerkennend fest.

Leipold schreckt vor keinem zurück. Er war in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum, er war mit Präsident Putin Abendessen. Er sieht ganz klar die Gefahr, sich instrumentalisieren zu lassen. Aber: „Wenn Putin mit mir und anderen spricht, kann er uns nicht am nächsten Tag als CIA-Agenten bezeichnen.“ Auch Sittler will sich mit Bedacht engagieren: „Ich will wissen, wohin das Boot fährt, in das ich gezogen werden soll.“

Gibt es inzwischen zu viel Demokratie, verhindert sie wichtige Planungen? Nein, findet Sittler, die Bürger wollten eben keine unsinnigen Großprojekte mehr. „Großprojekte sind nicht gut, weil sie groß sind. Sie sind gut oder schlecht. Beim Großprojekt Bürgerversicherung würden die meisten mitmachen.“ Braucht die Einmischung Mut? Verglichen mit den Menschen, die ein Leben lang ohne Erfolg für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft haben, eigentlich wenig, befanden die beiden Autoren. „Je mehr Leute empört waren über das, was wir sagen, desto mehr freuten wir uns“, erinnerte sich Leipold.

Im Gegensatz zu anderen Orten, an denen es brodelt, empfanden die beiden Autoren Budapest als eine Stadt in Lethargie. Wie kann es sein, dass das ungarische Volk sich bei Wahlen selbst entmündigt, 80 Prozent der Abgeordneten rechtsradikal oder rechtsnational sind? Warum erfahren die ungarischen Medien in ihrem Kampf für Demokratie keine Unterstützung von ihren deutschen Eigentümern?

Zurück nach Hause: Demokratie, betonte Sittler, beginne vor Ort in der Gemeinde. Etwa dann, wenn Bürger in Leonberg erfolgreich für ihren Stadtpark kämpften. Durch Wahlen, meinte Leipold, hätten Politiker noch nie etwas gelernt, nur einen Posten bekommen. Lernen könnten sie aber hinterher. Man müsse es ihnen nur sagen.

Gesagt bekamen die gespannt lauschenden Zuhörer noch einiges andere: dass Kastanien dank Innenminister Rech auch „schwäbische Plastersteine“ genannt werden, dass auf Gotland die Mörder ziemlich leicht zu finden sind und dass es zwischen Theaterbühne und Demonstration einen wichtigen Unterscheid gibt. „Auf der Demobühne habe ich keinen Text“, meinte Sittler, „den muss ich mir selber ausdenken.“

Walter Sittler und Gerd Leipold: Zeit, sich einzumischen. 288 Seiten, gebunden, Sagas.edition, 19,99 Euro.