Kirchheim. „Dass jemand als Schlampe bezeichnet wird, ist unter Jugendlichen mittlerweile fast schon normal“, sagt Angelika Schönwald-Hutt, Leiterin von Kompass, der Psychologischen Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt im Landkreis Esslingen mit Sitz in Kirchheim. Was die Sprache anbelangt, finde in gewisser Weise eine Verrohung statt. Doch nicht nur auf verbaler Ebene laufe sexualisierte Gewalt ab – das Internet und die neuen Medien spielten hier ebenfalls eine große Rolle, zum Beispiel im Bereich „Sexting“. Darunter fällt der Austausch selbst gemachter Nacktbilder über das Smartphone, das Tablet oder den PC. „Wir erleben immer wieder, dass Jungs von Mädchen ein Foto im Bikini, BH oder sogar oben ohne verlangen“, berichtet Angelika Schönwald-Hutt. Gelangen solche Fotos zum Beispiel über Facebook in die Öffentlichkeit, werden die Mädchen „unheimlich bloßgestellt“, sagt die Kinder- und Jugendlichentherapeutin. Vom strafrechtlichen Aspekt einer solchen Aktion ganz zu schweigen.
Seit etwa zwei Jahren beobachten Angelika Schönwald-Hutt und ihre Kollegen den Trend, dass sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen zunimmt. „Die Mehrzahl der Jugendlichen ist nicht grenzüberschreitend“, stellt die Kompass-Leiterin klar. Dennoch gebe es diese Entwicklung, die sich aber nicht nur auf den Kreis Esslingen beschränkt – sie ist auch aus der Polizeistatistik des Bundes und der Länder herauszulesen, ergänzt Katja Englert von Kompass. Joachim Elger von der Beratungsstelle Pro Familia in Kirchheim, welche Sexualpädagogik an Schulen anbietet, bestätigt: Anlass für die Aufklärungsarbeit von Pro Familia sind oft entsprechende Vorfälle an den Schulen und Hilferufe der Lehrer.
„Die Jugendlichen kommen heutzutage über das Internet an sämtliche Infos“, sagt Angelika Schönwald-Hutt. Auch pornografisches Material werde konsumiert, vor allem von Jungs. „Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Jugendliche Erfahrungen mit Pornografie haben“, ergänzt Joachim Elger. „Trotzdem stellen wir eine große Unsicherheit fest, zum Beispiel hinsichtlich der Fragen, was eine Beziehungsaufnahme bedeutet oder wie man eine Beziehung aufrechterhält“, berichtet die Kompass-Leiterin. Joachim Elger bestätigt, dass es eine andere, positive Seite der Medaille gibt: „Viele Jugendliche legen Wert auf Tugenden wie zum Beispiel Treue.“
Dass Eltern ihren Kindern das Smartphone verbieten, hält Joachim Elger nicht für zielführend. „Verbot und Kontrolle sind kein Weg. Vielmehr sollte man die Jugendlichen begleiten und mit ihnen sprechen.“ Katja Englert bestätigt, dass das Tabuisieren von Sexualität oft ein Problem sei. Es stecke aber auch Unerfahrenheit hinter den Grenzüberschreitungen – und die Tatsache, dass manche Jugendlichen aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen. So sei häufig der Mangel an Zuneigung ein Grund.
„Jugendliche probieren viele Dinge aus. Das gehört auch ein Stück weit dazu“, zeigt Angelika Schönwald-Hutt gewisses Verständnis. Es gehe um Provokation und darum, zu beeindrucken. „Jugendliche sollten aber Grenzen kennen“, ergänzt Joachim Elger. „Zum Beispiel an Schulen sollte man Regeln aufstellen, wie man miteinander umgeht.“ Wenn die Schule es schaffe, über Sexualität zu sprechen und sie nicht zu tabuisieren, gelinge es, „die Sprengkraft herauszunehmen“.