Lokales

Vereint für Kultur und Sozialstaat

Peter Brandt beim Empfang der Kreis-SPD

Weil der Saalbau nach einem Brand nicht nutzbar war, wich der SPD-Kreisverband Esslingen beim Neujahrsempfang in Neuhausen kurzfristig in den Saal des Ochsen aus. Dort sprach Geschichtsprofessor Peter Brandt, ältester Sohn von Willy Brandt, über die Identität von Europa.

Neuhausen. Er werde keine Rede wie ein Politiker halten, sagte Brandt zu Beginn. So war es auch: Sein anspruchsvoller Vortrag vor vollem Saal glich eher einer Vorlesung. Brandt ging sein Thema von vielen verschiedenen Seiten an. Fühlen sich die Europäer eher als Europäer oder als Angehörige ihrer Nationen? Allein oder hauptsächlich als Europäer fühle sich laut „Eurobarometer“-Befragungen nur jeder Zehnte. Rechne man die hinzu, die sich zusätzlich, an zweiter Stelle nach der eigenen Nation, als EU-Bürger verstehen, steige die Zahl der „Europafreundlichen“ auf bis zu zwei Drittel der Bevölkerung.

Die heutige Gestalt Europas ist für Peter Brandt keinesfalls selbstverständlich. „Zwingend war der Weg von der Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die EG bis zur EU heutigen Zuschnitts nicht.“ Unabhängige Staaten hätten relativ gleichberechtigt eine übergeordnete Ordnung geschaffen, dieser gäben sie immer mehr Kompetenzen ab. Dies sei ein Vorgang ohne historisches Beispiel.

Typisch europäisch sei der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat. Ihn hätten seit dem späten 19. Jahrhundert ganz unterschiedliche politisch-soziale Kräfte aufgebaut und gestaltet. „Der radikale Rückbau des Sozialstaats in Europa ist schwer vorstellbar und erscheint kaum durchsetzbar.“ Typisch europäisch sei auch die Idee der Freiheit. Gedankliche Basis der rechtlich-politischen Gleichheit sei die Gleichheit der Gläubigen vor Gott.

Nur als Baustein eines vereinten Europas, betonte Brandt, hätten die Nationalstaaten eine konstruktive Zukunft. Nur vereint habe Europa eine Chance, gegen das globale Finanzkapital seine Zivilgesellschaft, Kultur und seine sozialstaatlichen Errungenschaften zu verteidigen.

Der SPD-Kreisvorsitzende Michael Wechsler erzählte zum Raumwechsel eine interessante Geschichte: 1909 gab es im Gasthaus Ochsen eine Versammlung. Eine Steuererhöhung auf Genussmittel hatte vor allem die Arbeiter getroffen. Pfarrer Leser, Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei, verteidigte die Erhöhung. Der sozialdemokratische Abgeordnete Gottlieb Kenngott aus Esslingen wollte dazu auch etwas sagen, Leser ließ in nicht. Ein großer Teil der empörten Besucher folgte Kenngott hinüber zum Saalbau. Dort sprach er, anschließend wurde spontan ein SPD-Ortsverein mit 32 Mitgliedern gegründet. „Solange es Ungerechtigkeit auf der Welt gibt, solange wird es sozialdemokratische Umtriebe geben, nicht nur in Neuhausen“, versprach Wechsler.

Die SPD sei in die Große Koalition „nicht zu jedem, aber zu einem guten Preis gezogen“, sagte Wechsler. In einer Partei Mitglied zu sein, sei Basis der Demokratie. Wechsler äußerte auch Kritik zur Arbeit in Berlin: Die Ausgaben für die verbesserte Mütterrente, betonte er, müssten eigentlich aus Steuermitteln finanziert werden. Weil die Union versprochen habe, dass es keine Steuererhöhungen gebe, sei das nicht machbar gewesen.