Lokales

Vorlesung für Richter

Fünfstündiges „Letztes Wort“ des Angeklagten

Das „Letzte Wort“ des 34-jährigen Neuffener Prostituiertenschrecks, der sich im Sinne der Anklage zwar schuldig bekennt, artete am Stuttgarter Landgericht zu einer Nachhilfe-Vorlesung für die Berufsrichter aus. Der Staatsanwalt hatte gegen ihn wegen dreifachen versuchten Totschlags, Erpressung, Betrug, mehrfacher Körperverletzung und Nötigungen fünf Jahre Haft gefordert. Der gestrige Verhandlungstag war dem „Letzten Wort“ vorbehalten.

BERND WINCKLER

Neuffen/Stuttgart. Nahezu fünf Stunden referierte der 34-Jährige an diesem vorletzten Prozesstag im größten Saal des Stuttgarter Landgerichts seine eigene Verteidigungsrede. Allerdings hatte er dabei weniger Publikum, als er erhofft hatte: Lediglich sechs Personen saßen in den Zuhörerreihen, verließen den Saal aber nach zwei Stunden wieder. Geblieben waren nur zwei Journalisten. Mit dem Satz, „Hohes Gericht, Herr Staatsanwalt, Frau Verteidigerin“, begann der 34-Jährige seine Darstellung und fügte noch hinzu: „Zu Ihrer Beruhigung, ich werde nicht den ganzen Tag reden…“

Doch zumindest den halben Tag beanspruchte er, wobei nach dem Gerichtsverfassungsrecht jeder Angeklagte sein „Letztes Wort“ so lange halten kann, wie er will. Die meisten benötigen dazu nur wenige Minuten. Der Angeklagte hat wohl in der Untersuchungshaft, in der er seit 31. August letzten Jahres sitzt, reichlich Zeit gehabt, die juristische Literatur, die die Anstaltsbücherei hergab, zu studieren. So war er in der Lage, zahlreiche rechtliche Kommentare zu bestimmten ihm gemachten Vorwürfen zu zitieren. Dabei stellt er fest, dass der in diesem Verfahren tätige psychiatrische Gutachter in einigen Passagen falsch lag. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der „Prostituiertenschreck“ kein Fall für eine Einweisung sei und auch strafrechtliche dessen Verantwortlichkeit gegeben sei. Dem widersprach der Angeklagte und meinte, dass gerade seine psychische Krankheit erhebli­chen Einfluss auf seinen Alltag hatte und er an sexuellen Zwängen litt.

Den massiven Angriff im Nürtinger Krankenhaus gegen einen Oberarzt gibt er zu, sagt aber zur Entschuldigung, dass er bei diesem Arzt nur Hilfe gesucht habe und nicht vorgehabt habe, ihn zu verletzen. Die Drohung, er werde eine Sprechstundenhilfe „totschlagen“, sei ganz falsch aufgefasst worden. Auch hier habe er nur psychiatrische Hilfe gesucht: „Ich gehe davon aus, dass hier juristisch gesehen ein strafbefreiender Rücktritt von der Nötigung vorliegt,“

Mehrfache Betrugstaten zum Nachteil von Prostituierten, weil er Sexdienste nicht bezahlte, verbunden mit Körperverletzungen bis hin zu Todesdrohungen und versuchter Tötung, wirft ihm der Staatsanwalt vor. Hierzu machte der Angeklagte lange Ausführungen, wie der Paragraf 263 (Betrug) von den bereits an diesem Moment schmunzelnden Richtern zu werten sei. Er gab der Richterbank Nachhilfe in Sachen „Vorsätzlich“. „Vorsatz ist, wenn ich etwas nicht bezahlen will…“ Und weiter: „Habe ich das Vermögen der Frau geschädigt?“ Er las den Wortlaut des Paragrafen vor: „Wer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Vermögen eines anderen….“ Die Richter hörten schon gar nicht mehr hin, ein Beisitzer der Stuttgarter Schwurgerichtskammer gähnte sogar, als der Angeklagte dann zu dem Vorwurf kam, er habe eine der Prostituierten zu sich nach Neuffen bestellt, dort dann aber die sexuelle Leistung zwar bezahlt, dann aber von der Frau das Geld unter Drohungen zurückgefordert, sie dann gewürgt und letztlich aus seinem fahrenden Auto geschubst. Der Würgegriff, ein Schwitzkasten, die Geldforderung, die der Ankläger als versuchte räuberische Erpressung sieht, habe nicht stattgefunden, ereiferte sich der 34-Jährige im „Letzten Wort“ und versuchte eine juristische Abhandlung zu geben, worin der Unterschied zwischen gefährlicher oder normaler Körperverletzung bestehe.

Die angeklagte räuberische Erpressung und das Zubodenwerfen einer Liebesdienerin, die er ebenfalls am Hals gewürgt habe, bis die Frau keine Luft mehr bekam, kommentierte er mit verschiedener BGH-Rechtsprechungs-Literatur: „Man kann darüber nachdenken, was Würgen zum Thema töten bedeutet und ob ich von dem Vorwurf des versuchten Totschlags nicht doch noch zurückgetreten bin…“

Knapp fünf Stunden mussten sich die Richter die Ausführungen anhören, ehe sie sich zur Beratung zurückzogen. Am Freitag soll das Urteil gesprochen werden.