Lokales

Wie Worte Leben retten können

Podiumsgespräch und Ausstellung des Arbeitskreises Leben zum Thema Suizidprävention

Jedes Jahr sterben bundesweit rund 10 000 Menschen durch Selbsttötung – doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle. Um die Aufmerksamkeit für das Tabuthema zu steigern, hat der Arbeitskreis Leben Nürtingen-Kirchheim eine Ausstellung in der Familien-Bildungsstätte organisiert. Den Auftakt bildete ein Podiumsgespräch.

Offene Worte zu einem Tabuthema: Die  Podiumsteilnehmer Bernd Schuster, Walter Thiel, Gunhild Ilisei und Wilfried Veeser mit Mod
Offene Worte zu einem Tabuthema: Die Podiumsteilnehmer Bernd Schuster, Walter Thiel, Gunhild Ilisei und Wilfried Veeser mit Moderator Bernd Lörz und AKL-Geschäftsführerin Ursula Strunk (v.l.n.r.).Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Jeder Mensch kennt schwere Krisen, die ihn an den Rand seiner Kraft bringen. Erkrankungen, Trennungen, zwischenmenschliche Konflikte oder berufliche Probleme sind nur einige Beispiele, die in Betroffenen unter Umständen den Gedanken an den eigenen Tod aufkommen lassen. Wenn sich die seelische Belastung zuspitzt, Verzweiflung und Ausweglosigkeit einen immer größeren Raum einnehmen, dann scheint es für manche keine andere Lösungsmöglichkeit mehr zu geben, als das eigene Leben zu beenden, erläuterte Wilfried Veeser, Coach und Pfarrer der Evangelischen Kirchgemeinde Dettingen. Schon die Krisen selbst seien mit Scham belegt.

Von Kindesbeinen an werde vermittelt, dass auch schwere Krisen gemeistert werden können, wenn sie angepackt werden, machte der Allgemeinmediziner und Psychotherapeut Bernhard Schuster klar. Komme dann der Punkt, an dem es nicht weitergehe und Ereignisse einem Menschen den Boden unter den Füßen wegziehe, mache sich Beschämung breit. Es folge der Rückzug, der einen Teufelskreis aus Einsamkeit und Trauer einleitet und die seelische Spannung erhöht. „Die Diskrepanz zwischen der Scham, den Ansprüchen, die man an sich selbst hat und dem, was tatsächlich geht, wird immer größer, und damit nehmen auch Spannung und Rückzug weiter zu“, so Schuster. Der wachsende Schmerz und die steigende Verzweiflung könnten dann im Suizid münden.

Wenn sich Betroffene mit ihren Selbsttötungsgedanken gegenüber Angehörigen, Freunden oder Bekannten öffnen, rät Bernhard Schuster dazu, das Vertrauen zu würdigen. Es sollte keine Be- oder Abwertung stattfinden, denn die verstärke den Druck, während die Wertschätzung ein Weg sei, um die Scham zu überwinden und Worte zu finden, mit denen die unerträgliche Anspannung abgebaut werden kann, unter der Betroffene stehen. „Das kann ein erster Schritt auf dem Weg zurück in die Normalität sein“, so Schuster.

Aus Sicht von Gunhild Ilisei vom Psychologischen Dienst der Klinik Nürtingen ist es wichtig, dass Angehörige, Freunde und Bekannte sich trauen, auf Betroffene zuzugehen und zu signalisieren, dass sie da sind, auch wenn sie zurückgewiesen werden. „Es bedarf einer liebevollen Hartnäckigkeit“, so Gunhild Ilisei. In diesen Fällen gehöre es auch dazu, Sprachlosigkeit auszuhalten.

Schon allein das Zuhören könne Betroffenen weiterhelfen, sagte Wilfried Veeser. „Es kann sehr entlastend sein, wenn jemand einfach da ist und mit einem aushält“, so der Pfarrer. „Auch wenn man als Angehöriger oder Freund keine Worte findet und hilflos ist, kann man dennoch einfach da sein und Halt geben.“

Walter Thiel, dessen Frau im April vor drei Jahren Suizid verübte, sprach über seine eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht. Er berichtete, dass es nicht einfach sei, Menschen zu finden, die einen nach dem Freitod eines Angehörigen begleiten oder den Mut finden, auf die Hinterbliebenen zuzugehen und mit ihnen zu sprechen. Nach einem Suizid ist auch im Leben derjenigen, die zurückbleiben, häufig nichts mehr wie es vorher war. Sie müssen einen Umgang mit der Trauer finden und die Geschehnisse verarbeiten. Beim AKL Nürtingen-Kirchheim hat Thiel, wie er selbst sagte, eine Hilfe und Begleitung gefunden, die ihm einen Weg zurück zur Normalität schrittweise ermöglicht.

Wie das Podiumsgespräch zeigte, kann auch das erweiterte soziale Umfeld wie die Nachbarschaft oder die Kollegen im Betrieb wichtige Beiträge zur Krisenbewältigung leisten. Roland Böhringer vom Amt für Familie und Soziales berichtete, dass die Stadtverwaltung versuche, die Nachbarschaftsnetzwerke zu stärken, um die soziale Integration von Menschen zu fördern. Das könne aus seiner Sicht helfen, dass Menschen auch in Krisen aufeinander zugehen, das Gespräch suchen und wertvolle Hilfe leisten, die Leben retten kann.

 

Die Ausstellung „Gegen die Mauer des Schweigens. Suizid – Darüber reden kann Leben retten.“ in der Familien-Bildungsstätte läuft noch bis zum 19. April. Sie besteht aus Bannern, die über das Thema Selbstmord aufklären und Informationen zur Prävention und Trauerarbeit von Angehörigen enthalten.