Lokales

Zum Exhibitionismus gehört gesuchte Nähe

Verhandlung endet mit Freispruch – Absicht ist dem Angeklagten nicht nachzuweisen

Was macht ein Mann mit heruntergelassener Hose auf einem Gartengrundstück? Auf diese Frage musste die Kirchheimer Amtsrichterin Franziska Hermle gestern eine Antwort finden. Für den Angeklagten war die Antwort erfreulich, denn er kam mit einem Freispruch davon.

Kirchheim. Zugespitzt und mit Fremdwörtern noch einigermaßen salonfähig formuliert, lautete die entscheidende Frage: „Urinieren oder onanieren?“ Der Angeklagte, geboren im heutigen Bosnien-Herzegowina und seit Kurzem 55 Jahre alt, bestreitet jedwede exhibitionistische Absicht. An jenem 23. September letzten Jahres habe er sich – wie beinahe jeden Tag – auf seinem gepachteten Gartengrundstück in der Ötlinger Halde aufgehalten. Er hat dort ganz normal gearbeitet. Es war sehr warm, und er hat den Tag über „zwei Bier und Schnaps“ getrunken. Da es auf dem Grundstück keine Toilette gibt, musste er das Bier eben im Freien wieder loswerden. An der üblichen Stelle im Garten ging das aber nicht, weil er dort Feuer gemacht hatte. Aber er bleibt dabei, dass er die Hosen lediglich zum Pinkeln heruntergelassen hat.

Zwei Zeuginnen – Mutter und Tochter – sehen das völlig anders. Ihrer Meinung nach hat der Angeklagte vor ihren Augen onaniert. Entscheidend für die Einschätzung des Geschehens ist aber die Entfernung. Bei der Polizei hatten die Zeuginnen angegeben, den Angeklagten in einer Entfernung von 50 bis 60 Metern beobachtet zu haben. In der Verhandlung am gestrigen Dienstag sprachen sie eher von 30 bis 50 Metern. Aber unabhängig von der tatsächlichen Entfernung konnten sie eben keine Details wahrnehmen – außer dem entblößten Unterleib und den Bewegungen, die für die Zeuginnen nicht nach Urinieren ausgesehen haben.

Zu dritt waren die Zeuginnen gegen 16 Uhr unterwegs – mit der vierjährigen Tochter beziehungsweise Enkelin. Sie waren schon auf dem Rückweg, als sie wieder an dem besagten Gartengrundstück vorbeikamen. Die 44-jährige Mutter des kleinen Mädchens war etwas schneller unterwegs und entdeckte den Mann auf dem Gartengrundstück. Dann machte sie ihre 63 Jahre alte Mutter darauf aufmerksam, und beide Frauen beobachteten den Mann nach eigener Aussage über mehrere Minuten hinweg. Was aus ihrer Sicht gegen die Version vom Pinkeln sprach, das war die lange Zeitdauer und das waren die ziemlich weit heruntergelassenen Hosen. – Das kleine Mädchen wurde natürlich auch aufmerksam und fragte nach, was denn dort vor sich gehe. Mutter und Großmutter waren aber sensibel genug, in diesem Fall selbst nur vom Pinkeln zu erzählen.

Eine weitere Zeugin berichtete ges­tern, dass sie den Angeklagten vor zwei Jahren öfters in ähnlicher Stellung auf einem anderen Grundstück gesehen habe, wenn sie frühmorgens mit ihrem Hund dort vorbeikam. Sie kannte den Mann vom Sehen, hatte ihn zuvor auch immer gegrüßt und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Als er aber plötzlich halb entblößt dagestanden sei, habe sie ihn schlichtweg ignoriert. Angesprochen habe er sie nicht, er sei ihr auch nicht entgegengegangen. Nach fünf bis sechs solcher Vorfälle habe sie ihm deutlich die Meinung gesagt und mit einer Anklage gedroht: „Seither ist nichts mehr gewesen.“

Eine weitere Zeugin vor Gericht war die Polizistin, die im Zuge der Ermittlungen noch andere Personen befragt hat. Eine Frau habe ausgesagt, dass sie den Angeklagten schon mehrmals gesehen hat, wie er sich nackt innerhalb einer Hütte auf einem Gartengrundstück aufgehalten habe. Außerhalb der Hütte sei er aber immer angezogen gewesen, wenn sie am Grundstück vorbeikam.

Der Angeklagte selbst bewertete die Zeugen und ihre Aussagen aus seiner Sicht. Demnach wollen ihn die Nachbarn aus der Gartenkolonie vertreiben, weshalb sie sich solche Geschichten ausdenken. Die beiden Hauptbelastungszeuginnen hätten ihn im Auftrag seiner Gegner angezeigt. – Richterin, Staatsanwältin und Verteidiger waren sich am Ende der Verhandlung zumindest darin einig, dass in diesem Fall wohl ein gewisser „Unfrieden zwischen Nachbarn“ herrsche, wie es Amtsrichterin Herm­le ausdrückte. Aber weder dieser Unfrieden noch die Frage, wer welchen Anteil daran hat, seien Gegenstand der Verhandlung.

Die Staatsanwältin tat sich in ihrem Plädoyer „nicht leicht“, wie sie selbst sagte. Einerseits sei da der Angeklagte, der behaupte, im Garten lediglich uriniert zu haben – wie er das öfters mache –, und der davon ausgegangen sei, dass ihn vom Weg aus niemand sieht. Andererseits würden die Aussagen der Zeuginnen, auch wenn sie sich teilweise widersprächen, nahelegen, „dass gewisse Vorfälle vorlagen“. Weil auch noch ein kleines Mädchen anwesend war, sei der Angeklagte wegen „sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit exhibitionistischen Handlungen“ zu verurteilen, und zwar in diesem Fall zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 20 Euro.

Der Verteidiger dagegen plädierte auf Freispruch in vollem Umfang, „weil Täter dieser Art in unmittelbarer Nähe der Opfer Handlungen vornehmen und dadurch erregt werden“. Das sei bei einer Entfernung von 50 bis 60 Metern aber nicht möglich. Zudem sei das Grundstück auch noch so schwer einsehbar, „dass keine Handlungen zu erkennen sind“. Weil außerdem das Kind überhaupt nichts gesehen habe, sei dem Angeklagten rein gar nichts nachzuweisen.

Franziska Hermle sah das in der Urteilsbegründung ähnlich wie der Verteidiger. Sie betonte zwar, dass es äußerst unangenehm sei, Zeugin einer exhibitionistischen Handlung zu werden. Dass es hier aber eine exhibitionistische Handlung war, sei schwer festzustellen, erst recht bei einer so großen Entfernung. Sie glaube zwar nicht, dass die Zeuginnen Märchen erzählen. Es muss für sie wirklich unangenehm gewesen sein, „aber das bloße Sehen eines nackten Mannes reicht hier nicht“. Trotz des Freispruchs empfahl sie dem Hobbygärtner aber: „Bringen Sie sich nicht mehr in die Gefahr, dass es so eine Verhandlung geben kann. Schützen Sie eine Stelle in Ihrem Garten durch einen Busch oder eine Wand, sodass Sie unbeobachtet pinkeln können.“