Kirchheim. Es gibt Ziele, für deren Erreichen man aufgrund ihres Status keinerlei Motivation mehr braucht. So gesehen dürfte es Deutschlands Leichtathleten dieses Jahr gleich doppelt leicht fallen, Trainingsschweiß zu vergießen und die Konzentration hoch zu halten: Die Qualifikation für die Europameisterschaften in Helsinki (27. Juni bis 1. Juli) und die Olympischen Spiele in London (3. bis 12. August) gerät auch für Kirchheims Sprint-Ass Tobias Unger zum Selbstläufer in Sachen Ansporn. „Ich bin so heiß, dass ich keinen Psychologen brauche“, witzelt der 32-Jährige, der jedoch unter weitaus größerem Druck steht, als Nationalmannschaftskollegen wie Julian Reus, Martin Keller oder Christian Blum. Die sind zwischen sieben und neun Jahre jünger und müssen darum (noch) nicht wie Unger mit einem Auge auf die Zeit nach der Karriere schielen.
Wann die vorbei sein wird, entscheidet Unger dabei zu großen Teilen nicht selbst. Er selbst würde nach Olympia gerne noch eine Saison dranhängen, sofern seine Sponsoren ihn weiter unterstützen. Dafür müssen jedoch die Ergebnisse stimmen, die er diese Saison abliefert – und die definieren sich 2012 nun mal ausschließlich über das Ergattern der Tickets für EM und Olympia. Um nach Helsinki zu fahren, muss man über 100 Meter 10,27 Sekunden laufen, über 200 Meter 20,70 Sekunden. Das Ticket nach London gibt‘s für 10,16 Sekunden über 100 Meter und 20,45 Sekunden über 200.
Die geforderten Normen sind Unger durchaus zuzutrauen, zumal er nach dreiwöchigem USA-Trainingslager vergangene Woche vielversprechend in die Saison gestartet ist. 10,38 Sekunden bei Gegenwind in Rechberghausen mit einer Erkältung im Körper machen Lust und Hoffnung auf mehr. „Ich denke, dass die EM-Norm über 100 und 200 Meter in Weinheim schon fallen könnte“, sagt Unger vor der Kurpfalz-Gala, die heute im Nordbadischen steigt. Angesichts des hochkarätigen Starterfelds sind in der Tat schnelle Zeiten in Weinheim zu erwarten, immerhin hat sich die komplette 16-köpfige Nationalmannschaft angesagt. Das Teilnehmerfeld drängt sich, weil die Zeit drängt: Um sich für die beiden Saisonhöhepunkte zu qualifizieren, bleiben den schnellsten deutschen Sprintern nur wenige Wochen: Die EM-Quali muss spätestens bei den deutschen Meisterschaften am 16./17. Juni geknackt sein, die Olympianorm bis 2. Juli.
Für Unger und Co. bedeutet das mindestens vier Wochen Dauerdruck, wenn nicht gar sechs. Ob so etwas nicht eher hemmt als beflügelt? „Auf der Bahn denkt man da sowieso nicht dran“, sagt Unger, „wichtig ist, dass der Spaß nicht verloren geht und man nicht verkrampft.“ Zugute kommt dem „Schwabenpfeil“ vor Beginn der heißen Wettkampfphase, dass der größte Unistress erst mal vorüber ist. Die Bachelorarbeit für sein Studium der Sport- und Gesundheitsförderung ist abgegeben, die mündliche Prüfung soll noch vor der EM absolviert werden. „Jetzt kann ich mich in Ruhe aufs Training konzentrieren“, schnauft er durch.
Dort lag der Fokus seit Ende der Hallensaison wieder vermehrt auf den 200 Metern, Ungers einstiger Paradestrecke. Zu gerne würde der Hallen-Europameister von 2005 und aktuelle deutsche Rekordhalter (20,20) bei Olympia über die halbe Stadionrunde antreten. „So lange die Ferse hält und die Füße die Belastungen mitmachen, ist das mein Hauptaugenmerk“, verrät er. Erste Bewährungschance bietet die heutige Kurpfalz-Gala, wo Unger auch über 100 Meter und in der Staffel (siehe nebenstehender Artikel) starten will. „Über 100 Meter will ich die nötige Spritzigkeit bekommen, um über 200 voll angreifen zu können.“
Die Konkurrenz schläft dabei nicht. Allen voran Aleixo Platini Menga von Bayer Leverkusen. Der 24-Jährige, amtierender Deutscher Hallenmeister über 200 Meter, hat mit seinen 20,48 Sekunden vergangenes Wochenende in Jena für Aufsehen gesorgt – so schnell ist seit drei Jahren kein Deutscher mehr gelaufen. Das Erreichen der beiden großen Ziele scheint Motivation genug.