Erkenbrechtsweiler. „Wir haben viele Bisons gesehen. Wandern darf man da nicht, das ist zu gefährlich. Aber mit dem Auto sind wir durch die Herden durchgefahren“, erzählt Maxine aus Reutlingen von ihren Erlebnissen auf einer Bison-Ranch. „Wenn ein Bison muht, klingt das eher wie ein Bär. Die Bisons brummen glücklich“, nimmt die Elfjährige ihre Zuhörer im Geiste mit auf die Reise in die Prärie und erzählt von weiteren Tierbegegnung: Gabelhornantilope, Schneeziege und „einem erdmännchen- und eichhörnchenähnlichen Tier“. Dabei handelte es sich um ein Squirrel, eine nordamerikanische Hörnchenart.
Bei indianischen Spielen sind die Europäer recht schnell und zwanglos mit ihren neuen Freunden in Kontakt gekommen, nachdem sie das College-Gelände auf einer kurzen Tour erkundet haben. „Die haben lustige Namen, die Spiele. Eines heißt ,Scream and Run‘. Dabei muss man rennen und schreien. So trainieren die Native Kids ihre Ausdauer“, erklärt Maxine. Die Spielzeit war jedoch keine Einbahnstraße. Die Europäer hatten unter anderem „Faules Ei“ und einige Zungenbrecher auf Lager.
Dass es überhaupt zu dem transatlantisches Austausch kam, ist mehreren Organisationen zu verdanken. FAKT, der Förderverein für Archäologie, Kultur und Tourismus mit Sitz in Erkenbrechtsweiler, gründete gemeinsam mit der Universität Tübingen und der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen die Kinder-Uni am Heidengraben. „Wir sind die einzige Kinder-Uni im ländlichen Raum in Europa“, sagt Peter Heiden, Vorsitzender von FAKT, nicht ohne Stolz. Dazu kommt noch das internationale EU-Projekt SiS-Catalyst, bei dem die Uni Tübingen Partner ist. Federführend dafür verantwortlich ist die Universität Liverpool. „SiS-Catalyst ist ein EU-Rahmenprogramm, das Kinder in einen internationalen Austausch bringen will. Nach vier Jahren läuft es jetzt aus – und zum Schluss haben drei unserer Kinder die Chance bekommen, nach Montana zu reisen“, freut sich Peter Heiden. Ziel des Projekts ist es, Kinder und Jugendliche für die Wissenschaft zu begeistern. „Sie sollen aber auch wahrgenommen und gehört werden, und es geht um wechselseitiges Lernen“, führt Peter Heiden weiter aus.
Insgesamt durften fünf Kinder die Reise über den Atlantik antreten, zwei von der Uni Innsbruck waren ebenfalls mit von der Partie. Begleitet wurden die Nachwuchs-Studenten jeweils von einem Elternteil. Während die Kosten für die Kinder von SiS-Catalyst übernommen wurden, mussten die Eltern für ihren Part selbst bezahlen. Die sind wie ihr Nachwuchs begeistert von den Eindrücken. „Wir wurden eine super Truppe, konnten tolle Freundschaften aufbauen und zehren heute noch von all dem, was wir erlebt haben“, sagt die Mutter von Evelin über die achttägige Reise Anfang August.
Evelin kommt bei der Erinnerung an die glasklaren Seen immer noch richtig ins Schwärmen: „Da kann man bis zum Grund durchs Wasser durchgucken – bis in die tiefsten Stellen.“ Ihr Blick blieb jedoch nicht nur auf die Seen gerichtet. „Irgendwann bin ich auf die seltsamen Bäume aufmerksam geworden. Da war ein Waldbrand vor zehn Jahren“, erfuhr die Elfjährige auf Nachfrage bei ihrer Reise durch den Glacier-Nationalpark, der im Hochgebirge der Rocky Mountains im Norden des US-Bundesstaats Montana an der Grenze zu Kanada liegt. Den Gletschern in Montana droht ein ähnliches Schicksal. „Nur noch wenige sind übrig geblieben, bis 2020 wird es keinen einzigen mehr geben“, bedauert Evelin. „Man bekommt ein ganz anderes Gefühl dafür, wie schnell die Erderwärmung voranschreitet“, sagt ihre Mutter und Tims Vater ergänzt: „Die American Natives setzen sehr auf regenerative Energien. Sie leben mit der Natur und nicht gegen sie. Da treffen mit den Amerikanern große Gegensätze aufeinander.“ Vor allem die Bewässerung, die zu jeder Tageszeit läuft, sei ein Riesenthema.
„Wir waren täglich zusammen, von 10 bis gegen 20, 21 Uhr. In der einen Woche sind gute Freundschaften entstanden“, sagt der zwölfjährige Tim. Innerhalb kürzester Zeit waren die Bande so eng geknüpft, dass drei Indianer-Kinder im College übernachten durften, in dem die Europäer untergebracht waren. „Die haben sich selbst Indian-Kids genannt. Das ist kein Schimpfwort“, erzählt Tim. Im Salish Kootenai College am Lake Flatheat leben rund 1 500 Studenten, die zu dem Zeitpunkt Ferien hatten. „80 Prozent davon sind Indianer. Es ist eines der größten und wenigen Colleges in den USA, in dem sie studieren können. Es ist ziemlich groß“, sagt Tim. Während die Elterngeneration noch intensiv Handwerk betreibt und ihre Produkte in kleinen Läden verkauft, verliert bei den Jungen der indianische Einfluss an Bedeutung. „Die junge Generation hängt ein bisschen in der Luft. Tänze und Gesänge färben noch ab, Stickereien eher nicht“, sagt Maxines Mutter. Für ihre Tochter und Evelin ist die traditionelle Musik jedoch gewöhnungsbedürftig. „Das ist so heulend, und es gibt verschiedene Trommeln“, sagt Maxine.
Auch die indianische Sprache stirbt immer mehr aus. „Die Stämme vermischen sich stark, weshalb es wenig reinblütige Salish, Kootenai und Pend d‘Oreille gibt. Damit nicht alles verloren geht, gibt es kostenlose Sprachschulen“, erfuhren die Eltern. Um die Tradition am Leben zu erhalten gibt es Familien, die regelrecht auf Tournee gehen. „Es gibt Wettbewerbe, ähnlich wie Trachtenveranstaltungen, bei denen in indianischer Kleidung gesungen wird. Und es gibt große Feste wie ein Powwow.“
Vor Reiseantritt in die USA gab es fünf Treffen in Deutschland, und dabei mussten Eltern wie Kinder Hausaufgaben erledigen. Das hat nicht nur dem Kennenlernen gedient. „Wir haben viel über die Geschichte der Indianer gelernt und auch das Lindenmuseum in Stuttgart besucht“, erzählt Tim. Die Treffen entwickelten eine eigene Dynamik, aus denen ein Film entstanden ist. Der zeigt, wie die drei in Deutschland leben, welche Hobbys sie haben, was es an Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung gibt und wie ihre Schulen aussehen. „Das war eine Riesenchance für unsere Kinder, mit Native Indians in Kontakt zu kommen“, freuen sich die Eltern unisono.
Dabei wurde auch deutlich, welche Probleme die Ureinwohner bis heute mit ihren „Besatzern“ haben. „Der Kerr-Damm wurde von den Indianer zwar gebaut, sie haben bislang aber keinen Nutzen davon. Nach Jahrzehnten bekommen sie ihn aber“, berichtet Tim. Einst seien die Indianer gegen den Bau des Damms im Flathead-Indianerreservat gewesen, weil er einen heiligen Ort zerstört hat. „Das hat sich nun geändert. Der Damm wird die Indianer ernähren. Sie haben die Techniken zum Betrieb erlernt und benötigen keine Hilfe von außen“, erzählt Tim weiter.
Das Leben im Reservat hat aber auch seine Schattenseiten, mit Drogen- und Alkoholkonsum sowie hoher Arbeitslosigkeit. Damit dieser Teufelskreis erst gar nicht beginnt, ist Bildung gefragt. Gemeinsam mit ihren neuen, europäischen Freunden erarbeiteten die Indian-Kids Vorschläge für eine Resolution zur Verbesserung des Unterrichts- und Schulalltags. So wünschen sich die indianischen Kinder längere Pausen, denn bislang ist nur Zeit dafür, um Bücher zu holen oder zurückzubringen. Außerdem würden sie sich über mehr „Eins-zu-eins-Zusammenarbeit“ mit ihren Lehrern freuen, damit in den großen, altersübergreifenden Klassen, eine persönliche Bindung entstehen kann.
Die Verständigung unter den Gleichaltrigen war dagegen nie ein Problem. „Das ging auch mit Händen und Füßen, und wir haben den Indian-Kids deutsche Wörter beigebracht. Ein Mädchen kann jetzt Wasser in acht Sprachen sagen“, erzählt Maxine.