Kirchheim

Als das jüdische Leben erlosch

Gedenkstunde Kirchheim hat sich in der Martinskirche zum Gedenken an die Pogromnacht vor 80 Jahren versammelt.

Markus Geiger
Markus Geiger. Foto: Thomas Kaltenecker

Kirchheim. „Die Welt blickte mit Entsetzen nach Deutschland“: So schilderte Angelika Matt-Heidecker bei einer Gedenkveranstaltung in der Kirchheimer Martinskirche die Tage im November 1938, nachdem überall im Deutschen Reich Synagogen gebrannt hatten. „Das jüdische Leben erlosch nach den Pogromen“, stellte die Oberbürgermeisterin fest - ohne zu verschweigen, dass damals „auch Ortsansässige“ gewalttätig wurden, auch in Kirchheim.

Der Hauptredner der Gedenkstunde, Dr. Markus Geiger vom Evangelischen Bildungswerk im Landkreis Esslingen, erinnerte daran, dass Ende des 19. Jahrhunderts mehrere jüdische Familien nach Kirchheim gekommen waren: „Christliche und jüdische Kinder wuchsen gemeinsam auf. Die Juden waren in Kirchheim gut integriert, auch im Vereinsleben.“ Im April 1933 aber begann bereits der Boykott jüdischer Geschäfte. Als der Holocaust in seine letzte und schrecklichste Phase ging, war das jüdische Leben in Kirchheim bereits beendet: „Seit 1941 gab es hier keine Juden mehr.“

Die Kirchen schwiegen vor 80 Jahren zu den Pogromen. Markus Geiger spricht vom „kollektiven Versagen der Kirchen“. Drei Ausnahmen stellte er vor: Paul Schneider, Hermann Maas und Julius von Jan. Letzterer fand in seiner Bußtagspredigt vom 16. November 1938 in Oberlenningen deutliche Worte: „Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden - das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt.“ Neun Tage später prügelte ihn ein entfesselter Mob für diese Worte in die Bewusstlosigkeit. Es folgten Monate im Gefängnis, Jahre im bayerischen Exil und 1945 die Rückkehr nach Oberlenningen, „als ob nichts gewesen wäre“.

Markus Geiger machte deutlich, dass Julius von Jan wusste was er tat, als er das Unrecht öffentlich anprangerte. „Nun mag die Welt mit uns tun, was sie will“: So lautete der Schlusssatz der Predigt. „Die Welt“ reagierte auf seine Worte zunächst mit massiven Misshandlungen. Heute aber schätzt sie den 1964 Gestorbenen längst als mutigen Mann, der furchtlos als Einzelner dem NS-Massenstaat entgegentrat. Andreas Volz