Kirchheim

Die Freiheit im Abitur und das Anrecht auf zweckfreie Schönheit

Foto: Jean-Luc Jaques

Kirchheim. 305 von insgesamt 364 Kirchheimer Abiturienten haben gestern einen Deutsch-Aufsatz zum Auftakt ihrer Prüfungen verfasst. Gefühlt gab es an den Gymnasien in Kirchheim auch mindestens 305 persönliche Botschaften für die tapferen Gladiatoren der Reifeprüfung. Die Glückwünsche und Anfeuerungen scheinen von Jahr zu Jahr mehr zu werden. Mitunter sind sie auch ausgesprochen kreativ und zeugen sowohl von Sprachwitz als auch von schulischen Lernerfolgen. Anschauliches Beispiel ist die Botschaft an „Abi Saurus Rex“, für den die „Kreidezeit“ bald vorüber sein wird. Tatsächlich dürfte dem „Saurier“ an der Schule das Ende ebenso bevorstehen wie einst dem Tyrannosaurus Rex. Aber es bleibt die Hoffnung, dass es ein besseres Ende ist.

Vor diesem Ende stehen aber erst einmal viel Fleiß und Schweiß, und auch in diesem Fall waren gestern Wissen und sprachliches Einfühlungsvermögen gefragt. Bei der Interpretationsaufgabe zu den Pflichtlektüren ging es um die Freiheit, die der Ich-Erzähler in Peter Stamms Roman „Agnes“ höher einschätzt als das Glück. Zu vergleichen war diese Vorstellung von Freiheit mit den Hauptfiguren aus den anderen beiden Werken, die im Deutsch-Abitur derzeit zur Pflicht gehören – mit Walter Faber aus Max Frischs Roman „Homo faber“ und mit Georg Danton aus Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“.

Allgemein scheint diese Interpretationsaufgabe bei Kirchheimer Abiturienten nicht mehr ganz so gefragt zu sein wie in früheren Jahren. Möglicherweise kam auch die Fragestellung nicht so gut an. Insgesamt waren es nämlich „nur“ 107 Aufsatzschreiber, die sich damit befassten. Lediglich am Schlossgymnasium kam die Interpretation in der Beliebtheitsskala auf ihre angestammten 50 Prozent.

Erstaunlich gleichmäßig waren die fünf Themen am Ludwig-Uhland-Gymnasi­um verteilt: Für jedes Thema konnten sich knapp 30 Schüler erwärmen. Die Interpretation zum Freiheitsthema lag mit äußerst geringem Vorsprung vorn. Andere Abiturienten nahmen sich lieber die Freiheit, ein Sonett von Georg Herwegh („Ich kann oft stundenlang am Strome stehen“) mit dem inhaltlich sehr ähnlichen Gedicht „Aufblickend“ zu vergleichen, das Ingeborg Bachmann – ihrer Zeit entsprechend – in freier Versform verfasst hat.

Wieder andere interpretierten den Text „Die Katze spielt mit der Maus“, den Kurt Tucholsky 1916 – also vor genau 100 Jahren – erstmals veröffentlicht hatte. Die Zeit mitten im Ersten Weltkrieg gibt auch den entscheidenden Hinweis zur Interpretation. Schließlich ist es die Kompaniekatze am Kriegsschauplatz, die mit einer Maus spielt und deren Knochen knistern lässt. Der einfache Soldat wird, wenn er diese Geschichte las, sich überwiegend mit der Maus identifiziert haben. Schließlich sahen sich viele Soldaten gerade 1916 der „Knochenmühle von Verdun“ ausgesetzt. Und auch die Angehörigen der Soldaten dürften dem Text entnommen haben, welche „Katze“ gemeint ist, die die Macht und die Kraft hat, ihr lebendiges Spielzeug gnadenlos zu Tode zu bringen: die oberen Kriegsherren aller beteiligten Nationen, die da ihr „Menschenmaterial“ verheizten.

In der vierten Aufgabe ging es um ein ganz ähnliches Thema: „Mensch und Maschine – Facetten einer Beziehung“. 50 Essays sind an den beiden allgemeinbildenden Gymnasien zu den ebenso hilfreichen wie mordenden Maschinen entstanden.

Letzte Option war die Texterörterung, bei der sich an „Schloss“ und „LUG“ zusammen 32 Abiturienten mit der Frage befassten, ob und warum man „Schönheit“ lernen muss. Dabei ging es nicht etwa um „Germany‘s Next Topmodel“, sondern um die Freude an der zweckfreien Schönheit. Der dazu vorliegende Text aus der „Zeit“ vom Januar 2015 ist ein flammendes Plädoyer für „Homer und Shakespeare, Horaz und Molière“ sowie für „Gedichte von Schiller oder Mörike“. Die Schule solle den Sinn für solche Schönheiten schärfen und nicht jeden Lehrplaninhalt am unmittelbaren praktischen Nutzen ausrichten.

Die letzten beiden Aufgaben sehen an den beruflichen Gymnasien – am Technischen Gymnasium der Max-Eyth-Schule sowie am Wirtschaftsgymnasium der Jakob-Fried-rich-Schöllkopf-Schule – immer ein klein wenig anders aus. So war der Essay zum kontroversen Thema „Kommunikation ist heute (k)eine Kunst“ zu schreiben. Bei der Textanalyse wiederum zeigten sich Parallelen zu den allgemeinbildenden Gymnasien: Auch beim Text „Hard Skills, please“ ging es um die Frage, ob es nicht doch noch mehr gibt als nur die ganz praktischen und nützlichen Fähigkeiten. Im konkreten Fall war die Bedeutung sozialer Kompetenzen für die Berufswelt gemeint.

Zumindest beim Deutsch-Aufsatz mussten alle Schüler Kompetenzen beweisen, die weit über die Anforderungen im normalen Berufsleben hinausgehen. Gerade an diesem Punkt dürften sich die Prüfungen in Deutsch und Mathematik kaum voneinander unterscheiden. – Mathe ist heute dran, quasi als Kontrastprogramm.