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Weniger Beschwerden dank Knigge: Pro Familia bringt Flüchtlingen deutsche Sitten nahe

Gewusst wie: Seit Sommer haben die Beschwerden über aufdringliche Flüchtlinge in Kirchheim stark abgenommen. Besonders in der Dettinger Straße habe es einige solcher Vorfälle gegeben. Die positive Entwicklung schreibt AWO-Mitarbeiterin Jutta Woditsch vor allem Knigge-Kursen zu.

In Clubs geht es nicht immer gesittet zu. Um Flüchtlingen zu erklären, wie man sich Frauen gegenüber richtig verhält, veranstalt
In Clubs geht es nicht immer gesittet zu. Um Flüchtlingen zu erklären, wie man sich Frauen gegenüber richtig verhält, veranstaltet Pro Familia Stunden im „kulturellen Umgang miteinander“. Foto: Jörg Bächle

Kirchheim. Jutta Woditsch ist müde. Müde davon, zu überlegen, woran es liegt, dass das Frauenansprechen unter Flüchtlingen scheinbar ein großes Problem ist. Aber eines weiß die Betreuungsleiterin der Arbeiterwohlfahrt in Kirchheim aus erster Hand: Seit die ersten Knigge-Versuche in Kirchheim gewagt wurden, sinkt die Zahl der Beschwerden von Mädchen und Frauen bei der Arbeiterwohlfahrt und der Polizei erheblich.

Als rund hundert junge männliche Flüchtlinge im April letzten Jahres in die Containerunterkunft in der Dettinger Straße eingezogen sind, sorgte das unter Eltern und Mädchen für Unruhe. Tatsächlich ist dort laut Kirchheimer Polizei einer Frau nie etwas „strafrechtlich Relevantes“ passiert – heißt: Es gab in der Nähe der Container keinen sexuellen Übergriff. Viele Frauen und Mädchen fühlen sich jedoch schon unwohl, wenn sie einfach angesprochen werden. „Die Ereignisse von Köln haben sich in die Köpfe eingebrannt. Seitdem sind viele sensibler und hellhörig“, sagt Jutta Woditsch.

Unter mehr als 600 Flüchtlingen in Kirchheim gebe es laut Woditsch ein paar Idioten, die immer noch aufdringlich auf Frauen zugehen. Ein Großteil sei indes damit beschäftigt, zu grübeln, was sie tun können, um selbst nicht so gesehen zu werden. Woditsch rät den Männern in den Kirchheimer Unterkünften nicht davon ab, Menschen draußen nach dem Weg zu fragen. Vorsichtig sollten sie trotzdem sein. Frauen auf der Straße anquatschen gehe zum Beispiel gar nicht. Nicht jetzt.

Auf die Ängste der Mädchen und Frauen wurde schnell reagiert. Schon im Sommer gab es in Kirchheim erstmals Knigge-Kurse für die Flüchtlinge in der Dettinger Straße. Erst letzte Woche hat ein weiteres Projekt begonnen. Ab sofort knüpft sich Pro Familia die Männer im Anschluss an die Basis-Deutschkurse vor. In zwei Einheiten in „Kulturellem Umgang miteinander“ geht es um Kennenlernen, Bekleidung, Gleichberechtigung und Beziehungen, die auch ohne Eheschein funktionieren. Frauen müssen in den Stunden von Sexualpädagoge Joachim Elger draußen bleiben: So bleibe die Atmosphäre intimer, die Männer reden offener miteinander.

Die Devise des Fachmanns lautet „erklären ja, belehren nein“. Persönlich nennt er die Stunden ungern „Knigge“. Denn: „Wer sich vorne hinstellt und nur ermahnt, hat das Vertrauen schnell verspielt“, weiß Elger. Das will er tunlichst vermeiden. Vertrauen ist seine größte Waffe.

Der Pädagoge ist sich ziemlich sicher, dass seine Arbeit auf fruchtbaren Boden fällt, dass das, was er den Männern erzählt, Gehör findet. Die Männer wüssten im Übrigen inzwischen teils bestens Bescheid. Großartig schocken konnte der Sexualpädagoge niemanden mehr mit seinen seltsamen mitteleuropäischen Vorstellungen von Liebe und Beziehungen. „Ich will den Flüchtlingen zeigen, wie es hier funktioniert“, sagt er: Dass der Bikini kein Freifahrtschein ist, hinterherpfeifen meistens nicht so gut ankommt, taktloses Ansprechen schnell den weiblichen Fluchtinstinkt auslöst, aber Sex vor der Ehe in Ordnung geht – sogar gleichgeschlechtlicher.

Mit dem Projekt sieht AWO-Mitarbeiterin Jutta Woditsch die Sache auf dem richtigen Weg. Im April wird es die nächsten Einheiten geben. Der größte Fehler, den man jetzt machen könnte, sei es, die Verantwortung den Frauen zuzuschieben. Man könne nicht alle Fehler mit kulturellen Unterschieden begründen: „Wenn jemand immer noch aggressiv auf Frauen zugeht, obwohl er es eigentlich besser weiß, hat das einfach auch mit mangelndem Respekt zu tun“, sagt sie. Die meisten Flüchtlinge wüssten aber: Wenn sie sich schlecht verhalten, fällt das am Ende auf ganz viele zurück.

Das Projekt „Kultureller Umgang miteinander“ ist auf Initiative des Arbeitskreises Asyl in Kirchheim entstanden, der auch die Gelder zusammengekratzt hat: Durch Spenden können die Einheiten mit Pro Familia für die laufenden Kurse bezahlt werden. Im April beginnt die nächste Runde.