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„Manches Verhalten ist schon schwer zu ertragen“

Corona Wir leben mit Einschränkungen, die moderat sind im Vergleich mit anderen Ländern, sagt Tanja Kühbacher. Die Chefärztin über Risiken und Corona-Leugner. Von Bernd Köble

In den Operationssälen der Kreiskliniken herrscht wieder Alltag.
In den Operationssälen der Kreiskliniken herrscht wieder Alltag. Zu Beginn der Pandemie im Februar und März mussten nicht lebensnotwendige Operation von Patienten verschoben werden. Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Die Corona-Infektionszahlen steigen zurzeit vielerorts sprunghaft an. Obwohl sich die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Esslingen in der vergangenen Woche der kritischen Marke näherte, herrscht in den Kliniken Alltag. Wie die Pandemie-Lage aus medizinischer Sicht einzuschätzen ist, wollten wir von Tanja Kühbacher, Chefärztin in der Medius-Klinik Nürtingen, wissen.

Frau Kühbacher, die Infektionszahlen nähern sich kritischen Marken. Anders als im Frühjahr bleibt in den Kliniken jedoch alles ruhig. Woran liegt das?

Tanja Kühbacher: Im Moment liegt das daran, dass wir sehr viele junge Menschen haben, die betroffen sind. Dadurch sind die Verläufe nicht ganz so schwerwiegend. Das kann sich natürlich ändern, das sehen wir im Moment in einigen Bundesländern und auch Landkreisen. Zum Glück sind wir im Moment noch lange nicht da, wo wir in der Hochphase der Pandemie im März oder April waren. Im Moment wird das Infektionsgeschehen noch immer von Urlaubsreisen und privaten Partys bestimmt. Das Problem ist, junge Leute sind ja nicht in einer Blase. Sie stecken andere an.

Im Februar und März waren es aber auch überwiegend Jüngere, die das Virus aus dem Skiurlaub eingeschleppt haben.

Kühbacher: Nicht ganz. Die Gruppe damals war schon etwas heterogener. Da waren auch viele Familien und Personen fortgeschrittenen Alters darunter. Man muss auch sehen: Dass verbreitet Maske getragen wird in Situationen, in denen Abstand halten schwierig ist, das hatten wir im Frühjahr nicht. Die Menschen sind heute viel aufmerksamer als noch im März. Sie gehen früher zum Arzt oder in die Klinik.

Wie sieht im Moment die Lage in den Medius-Kliniken aus? Läuft alles ganz normal?

Wir haben zwar Patienten, die an Covid erkrankt sind, dadurch ist der Normalbetrieb aber nicht eingeschränkt. Unser Hygienekonzept und unsere Isolationsmaßnahmen funktionieren. Deshalb sind alle Patienten und auch Mitarbeiter bei uns sicher. Man kann sagen, die Lage ist im Moment entspannt. Erfreulicherweise.

Verantwortliche Stellen in Kliniken und Behörden betonen gerne, man habe aus den Erfahrungen im Frühjahr gelernt. Was heißt das konkret?

Wir verstehen die Erkrankung medizinisch etwas besser und wissen, wann wir Patienten genauer beobachten müssen und wie wir behandeln können. Ob das Virus jedoch mutiert und sich Änderungen ergeben, das können wir wissenschaftlich noch nicht komplett beantworten. Man kann auch nicht sagen, dass wir andere therapeutische Möglichkeiten hätten als noch im Frühjahr, die dazu beitragen könnten, dass Verläufe nicht intensivpflichtig werden. Wir haben einfach kein Heilmittel, und wir kennen die langfristigen Folgen einer Erkrankung im Moment noch nicht. Das ist so.

Ist eine Situation, wie wir sie im März hatten, für Sie noch einmal vorstellbar?

Leider muss man sagen, ja. Ich hoffe natürlich, dass sie so nicht eintritt. Was sicher alle gelernt haben, Bund und Länder, ist eine entsprechende Organisation. Zum Beispiel mit Intensiv-Registern, die es ermöglichen, Patienten gut zu verteilen und Kapazitäten optimal zu nutzen. Man muss auch sagen, dass Deutschland, was die Zahl der Intensivbetten und auch der normalen Krankenhausbetten betrifft, verglichen mit Ländern wie Frankreich, England oder Spanien in einer guten Situation ist. Was das wert ist, zeigt sich jetzt. Das sollten wir tunlichst erhalten.

Bund und Länder haben den Ausbau der Intensiv- und Beatmungsplätze im Frühsommer finanziell gefördert. Ist das, was geschah, ausreichend?

Ja, das würde ich schon sagen. In der aktuellen Situation ja. Aber wir beobachten die Entwicklung mit Besorgnis. Wenn mit Beginn der kalten Jahreszeit die Menschen weniger draußen sind und es zu größeren lokalen Ausbrüchen kommt, kann es auch örtlich wieder eng werden.

Worauf kommt es im Herbst jetzt an?

Man sollte in den Arztpraxen keine Patienten mit Husten, Schnupfen, Fieber sitzen haben, wenn man nicht weiß, ob sie an Influenza oder Covid-19 erkrankt sind. Deshalb ist es sinnvoll, über Fieberambulanzen zu sprechen, wie das die Politik ja bereits tut. Das ist natürlich Aufgabe des ambulanten Bereiches, nicht der Kliniken. Fieberambulanzen einrichten, das ist immer leicht gesagt. Die müssen natürlich auch von Ärztinnen und Ärzten betrieben werden, die sonst in ihren Praxen wären. Das wird organisatorisch ohne Frage eine große Herausforderung.

Nach welchen Kriterien wird denn entschieden, ob ein Covid-Erkrankter stationär behandelt werden muss?

Das richtet sich danach, ob ein Patient, wie wir Mediziner sagen, kompromittiert ist. Das heißt, wie stark ist das Krankheitsgefühl des Patienten, hat er hohes Fieber oder Atemnot, sodass er zu Hause nicht mehr alleine klar kommt. Dann gehört jemand ins Krankenhaus. Bloß nicht zu lange warten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sehr schnell gehen kann, dass jemand sauerstoffbedürftig wird oder intensivere Hilfe braucht. Das kann innerhalb von Stunden eintreten. Vor allem: Auch wenn man jung ist, kann man schwer erkranken. Das haben wir erlebt.

Sie haben Anfang März, als in Nürtingen die ersten Patienten in andere Kliniken verlegt werden mussten, in besonders drastischen Worten an die Vernunft der Bevölkerung appelliert. Würden Sie das heute genau so wieder tun?

Absolut. Umso mehr. Ich bin heute entsetzt, wenn ich die Tendenzen sehe. Bei allem Verständnis dafür, was menschlich ist. Dass man es leid ist, mit den Einschränkungen zu leben. Man muss festhalten, dass wir bei allen Problemen, die wir auch in Nürtingen erlebt haben, in Deutschland doch bisher glimpflich davongekommen sind. Wir hatten keine Toten auf den Straßen. Trotz hoher Zahlen lief der Klinikbetrieb weitgehend geordnet ab. Mich erstaunt es schon, dass jetzt schon so eine Unruhe herrscht bei den Menschen. Wir leben jetzt gerade mal ein halbes Jahr mit Einschränkungen, die moderat sind im Vergleich mit vielen anderen Ländern.

Darf ich daraus schließen, dass Sie noch auf keiner Corona-Demo waren?

Ich finde einige Argumente schon befremdlich. Wenn wir unsere Mitmenschen schützen wollen, dann müssen wir uns an die Regeln halten. Das ist das Einzige, was wir im Moment zur Verfügung haben. Auch zum Schutz von Wirtschaft und Arbeitsplätzen. Keiner will einen weiteren Lockdown. Ich glaube, dass das, was bisher in Deutschland gilt, wahrlich nicht zuviel verlangt ist. Auch wenn manches psychologisch verständlich erscheint. Wenn es um Gesundheit, Leben und Tod geht, wenn man mit Schwererkrankten und deren Angehörigen zu tun hatte, dann ist manches Verhalten schon schwer zu ertragen. Wir haben ja gesehen, dass wir ganz gut waren, als die Maßnahmen gewirkt haben. Also, wenn wir‘s können, dann bitte sollten wir es tun.

Viele behaupten, dass Tests fehlerhaft seien. Ist die Kritik berechtigt?

Zum einen gibt es nicht den einen Test, sondern verschiedene. Zum anderen sind Tests nie hundertprozentig sicher. Es kann sein, dass das Virus im Rachen nicht mehr nachweisbar ist, weil es schon in die Lunge gewandert ist. Dann ist jemand erkrankt, aber PCR-negativ. Deshalb verlassen wir uns bei Weitem nicht nur auf Tests, sondern betrachten das Gesamtbild aus Symptomen und Laborwerten. In der Medizin verlässt man sich nie nur auf eine Sache. Problematisch wird es, wenn jemand gar keine Symptome aufweist. Dann geht er in der Regel auch nicht zum Arzt.

Sollte im neuen Jahr ein Impfstoff auf den Markt kommen. Sind wir dann alle Sorgen los?

Das wäre toll. Es wird aber wohl nicht so sein, dass wir eine Impfung haben, die komplett schützt, wie wir das bei anderen Infektionskrankheiten kennen. Das Virus ist nicht trivial. Wenn wir Glück haben, wird es ein Impfstoff sein, der eine gewisse Zeit lang eine Immunität gibt und einen milderen Verlauf macht, aber selbst das wissen wir nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass auf dem Weg zur Zulassung die Leitsätze der Wissenschaft nicht ignoriert werden.

 

Professor Dr. Tanja Kühbacher ist Chefärztin der Klinik für Innere Medizin, Diabetologie, Gastroenterologie, Pulmonologie Tumormedizin und Palliativmedizin an der Medius-Klinik Nürtingen. Zuvor war sie sieben Jahre als Chefärztin am Asklepios Westklinikum Hamburg tätig und als Universitätsprofessorin für Gastroenterologie an der Christian-Albrecht-Universität Kiel. Nach dem Studium der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, der University of Glasgow, Schottland und der Hiroshima Medical School in Japan arbeitete sie klinisch und wissenschaftlich an der Berliner Charité und am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.tb