Die Nachfrage nach Schrei- und Schlafberatung ist enorm. Sind Eltern heute schlechter darin, ihre Kinder zu beruhigen beziehungsweise zum Schlafen zu bringen?
LUZIA BRÜHLMEIER-ZUROWSKI: Nein, auf keinen Fall! Die heutige Elterngeneration gibt eben einfach zu, dass sie Hilfe und Beratung braucht. Früher hätte man das unter den Teppich gekehrt. Hinzu kommt, dass die Empfehlungen früher klarer waren: Lass das Kind auch mal schreien, stille es nur alle vier Stunden und so weiter. Kindgerecht war das nicht. Vor allem kleine Babys sollte man nicht schreien lassen. Allerdings erlebe ich heutzutage oft, dass die Eltern ins andere Extrem gehen. Ihr Ziel ist: „Mein Kind soll gar nicht weinen müssen“. Dieses Ziel können Eltern nicht erreichen, denn bis zu zwei Stunden Weinen pro Tag ist für Babys ganz normal und oft entwicklungsbedingt.
Dass Babys auch mal schreien, ist doch kein Geheimnis.
BRÜHLMEIER-ZUROWSKI: Das Problem ist, dass viele Eltern überinformiert sind. Jeder sagt was anderes: Die Freundinnen, die Eltern, das Internet. Bevor die Eltern zu mir kommen, waren sie in der Regel schon beim Osteopathen, haben sich naturheilkundlich informiert, irgendwelche Medikamente gegeben, Bücher gelesen – und wissen am Ende gar nicht mehr, was zu tun ist. Die Familien, die ich betreue, sind sehr feinfühlig und empathisch. Aber total verunsichert. Es ist so viel Wissen da, dass die Eltern gar nicht mehr hören, was der Bauch ihnen sagt.
Kann man etwas tun, dass das Baby weniger schreit?
BRÜHLMEIER-ZUROWSKI: Die meisten Babys hören auf zu weinen, wenn man sie auf den Arm nimmt. Manche Eltern kommen zu mir und sagen: „Wir haben anfangs den Fehler gemacht, dass wir das Baby immer hochgenommen haben, wenn es weinte“. Sie haben das Gefühl, sie hätten es verwöhnt. Aber gerade die ersten Monate ist es absolut wichtig, feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren. Wenn Eltern auf die Bedürfnisse ihrer Babys reagiert haben, gibt es eine Basis, auf der man mit kleinen Veränderungen beginnen kann. Beispielsweise kann man ab dem vierten oder fünften Monat versuchen, das Kind nicht immer sofort hochzunehmen, sondern erst einmal zu ihm zu gehen, mit ihm zu sprechen, es zu streicheln und erst dann hochzunehmen, wenn es sich nicht beruhigt, das sogenannte „gestufte Trösten“. Auf diese Weise geben die Eltern den Babys die Zeit und die Möglichkeit, dass sie es auch mal alleine schaffen, sich zu beruhigen. Es ist nicht immer auf den Arm der Eltern angewiesen. Babys haben durchaus auch eigene Fähigkeiten zur Selbstregulation mit auf den Weg gekriegt.
Haben Eltern heute zu hohe Erwartungen an ihre Babys?
BRÜHLMEIER-ZUROWSKI: Die Erwartungen sind relativ hoch. Das ist ein gesellschaftlicher Trend. Heute sind schon Schwangere unter Druck. Ihnen wird suggeriert: Wenn du dich für diese oder jene Untersuchung entscheidest, hast du alles im Griff. Wenn dann das Baby auf die Welt kommt und mehr schreit als erwartet, wird das für die Eltern zu einer riesigen Herausforderung und vielleicht auch schon zu einer Enttäuschung. Zum Teil werde ich schon bei zwei Wochen alten Säuglingen gefragt: „Was kann ich tun, um mein Kind zu fördern“?
Gibt es heute mehr Schreibabys als früher?
BRÜHLMEIER-ZUROWSKI: Ja, wenn wir ganz weit zurückgucken, Nein wenn wir die letzten Jahre betrachten. Schreibabys sind Babys, die mehr als drei Stunden pro Tag, öfter als drei Mal die Woche schreien, und das seit mehr als drei Wochen. Schreibabys lassen sich häufig auch dann nicht beruhigen, wenn man sie trägt. Insgesamt ist die letzten Jahre zu beobachten, dass die Babys unruhiger sind, deutlich mehr Aufmerksamkeit fordern und sich mit dem Schlafen deutlich schwerer tun. Früher hätte man solche Kinder auch schreien lassen. Heute bieten die Eltern viele Beruhigungshilfen und aufwendige Einschlafhilfen an. Überforderung macht sich bemerkbar, und zwangsläufig steigt dann irgendwann die Frustration, wenn alles andere liegen bleibt.
Zur Person
Beruf. Luzia Brühlmeier-Zurowski ist Diplom-Hebamme mit langjähriger Berufserfahrung im klinischen und freiberuflichen Bereich. Sie hat eine Zusatzqualifikation für die Schrei-, Schlaf- und Entwicklungsberatung nach dem Modell der Münchner Sprechstunde von Professor Dr. med. M. Papousek. Die Beratung ist kostenpflichtig, kann aber in Einzelfällen von der Kasse bezahlt werden.
Kontakt. Interessierte können unter der Telefonnummer 0 70 21/97 64 47 anrufen und sich unter www.kirchheimer-hebamme.de informieren.