Lenninger Tal

„Er ist ein Teenager wie unsere Kinder auch“

Etwa 20 Gastfamilien im Kreis Esslingen haben minderjährige Flüchtlinge aufgenommen

Naveed Muhammad ist 16 Jahre alt und vor fünf Monaten mit drei Freunden in Pakistan losgezogen. In Deutschland ist er allein angekommen. Bei Familie Richter in Plochingen hat er vor zehn Wochen eine neue Heimat gefunden, in einer von 24 Gastfamilien, die dem Aufruf des Landkreises Esslingen gefolgt sind, junge Flüchtlinge aufzunehmen.

Naveed Muhammad hat es bei Iris Richter (links) und ihrer Tochter Tanja gut getroffen. Ursula Österle (rechts) betreut die Gaste
Naveed Muhammad hat es bei Iris Richter (links) und ihrer Tochter Tanja gut getroffen. Ursula Österle (rechts) betreut die Gasteltern.Foto: Roberto Bulgrin

Kreis Esslingen. Minderjährige Flüchtlinge sind bislang in Wohngruppen von Jugendhilfeeinrichtungen in Esslingen, Neuhausen und Kirchheim untergekommen. Als im vergangenen Sommer die Zahl jugendlicher Flüchtlinge nach oben schnellte, aktuell sind es 374, fühlte sich der Pflegekinderdienst gefordert. Zu seiner ersten Informationsveranstaltung kamen mehr als 80 Interessierte ins Landratsamt. 24 Familien beschlossen dann, sich dieser anspruchsvollen Aufgabe zu widmen: Junge Menschen aus einem anderen Kulturkreis, möglicherweise mit traumatischen Erfahrungen, bei sich aufzunehmen. „Diese Offenheit hat mich beeindruckt“, erzählt Ursula Österle vom Sozialen Dienst im Landratsamt: „Allein die Vorstellung, einem fremden jungen Menschen meinen Hausschlüssel in die Hand zu drücken, ihm meine Privatsphäre öffnen.“ Die Gasteltern erhalten auch Geld: 945 Euro monatlich. Aber ohne Freude an dieser Aufgabe, gehe es nicht, betont Sozialarbeiterin Österle. Auch ein eigenes Zimmer für die Fast-Erwachsenen wird vorausgesetzt.

„Wir haben uns schon immer für andere Kulturen interessiert“, erklärt Iris Richter ihre Beweggründe. Mit ihrem Mann Christian hat sie in der Katholischen Erwachsenenbildung schon Vorträge zum Thema Asyl organisiert. Und die drei Kinder im Alter zwischen 17 und 22 sind auf dem Sprung aus dem Elternhaus. Das sei typisch für die Interessenten, sagt Österle: „Und Erziehungserfahrung schadet nicht.“ Die Ankömmlinge sind zum Teil gerade der Pubertät entwachsen. Österle weiß jedoch von vielen positiven Erfahrungen in der Jugendhilfe Neuhausen. Die jungen Flüchtlinge gingen sehr respektvoll mit Erwachsenen um und hielten sich an Regeln.

Das gilt auch für Naveed. „Mit Mama laut sprechen geht nicht“, sagt er und senkt dazu den Kopf, wie er das von zu Hause gewöhnt ist. „Er ist nicht fordernd“, findet Iris Richter, „er ist ein Teenager wie unsere Kinder auch.“ Manchmal ist der fröhliche junge Mann zu Quatsch aufgelegt. Den macht die Familie mit, aber Mutter Iris stellt auch Regeln auf. Wer zu spät zum Essen kommt, kriegt nichts. Den Computerkonsum Naveeds haben Richters auf drei Stunden beschränkt, damit er nicht zu lange Filme in seiner Muttersprache Urdu anschaut, sondern den Kopf für Deutsch frei hat. In einer Vorbereitungsklasse an der Plochinger Burgschule lernt der 16-Jährige Deutsch. Seine größte Sorge ist, dass er die Sprache nicht schnell genug lernt. Denn wenn er 18 wird, muss er beweisen, dass er gut integriert ist, vielleicht sogar schon eine Lehrstelle gefunden hat. „Das erhöht seine Chance, hierbleiben zu dürfen“, erklärt Österle. Nach zehn Wochen in Plochingen versteht Naveed schon erstaunlich viel – anfangs konnte er fünf Worte. Da mussten schon der indische Bekannte des Sohnes oder die türkischen Nachbarn übersetzen.

Die Nachbarn halfen auch, die kulturelle Kluft zu überbrücken. „Wir wussten nicht, wo eine Moschee ist“, erzählt Iris Richter. Die Nachbarn nahmen den jungen Mann mit und schenkten ihm einen Gebetsteppich. Anfangs war auch das richtige Essen ein Thema. Fleisch muss „halal“ sein. Inzwischen weiß Iris Richter, dass es nicht kompliziert ist, das erlaubte und regelgerecht geschlachtete Fleisch zu bekommen. „Und wenn wir mal Schwein essen, dann kriegt Naveed eben ein Halal-Würstchen.“

Fremd war und ist für Naveed noch der Umgang mit Frauen. Zu Hause hat er seinem Vater im Friseurgeschäft geholfen, durfte aber nur Männer und Kinder frisieren. In Plochingen durfte er Gasttochter Tanja die Haare schneiden – aber das Foto wollte er keinesfalls in Facebook posten, auch nicht das Foto, wie er mit ihr spazieren geht.

Gasteltern werden vom Pflegekinderdienst auf ihre Aufgabe vorbereitet. In drei Seminaren geht es um rechtliche Fragen, die Lage in den Herkunftsländern, mögliche psychische Belastungen der Flüchtlinge. Der Pflegekinderdienst sucht weitere Gasteltern für minderjährige Flüchtlinge. Am morgigen Dienstag, 2. Februar, findet um 16.30 Uhr im Landratsamt Esslingen eine Informationsveranstaltung statt.