Zwischen Neckar und Alb

Es brauchte wenig, um ins Heim zu kommen

Geschichte In Esslingen gibt es eine Ausstellung über die Heimerziehung von 1949 bis 1975.

Esslingen. Von 1949 bis 1975 existierten in Baden-Württemberg über 600 Säuglings-, Kinder- und Jugendheime. Bundesweit wuchsen etwa 800 000 Menschen in diesen Heimen auf. Mit der Wanderausstellung „Verwahrlost und Gefährdet“ will das Landesarchiv Einblick in den Heimalltag gewähren. Dazu kommen Zeitzeugenberichte, die die Gefühlswelt der ehemaligen Heimkinder beschreiben. Nora Wohlfarth begleitet die Ausstellung und führt Interessierte durch die bewegende und beklemmende Geschichte.

„Am Anfang der Ausstellung steht ein Fragebogen“, weiß die Projektleiterin. Dieser Fragebogen zeigt auf, wie schnell es damals gehen konnte, dass ein Kind ins Heim gesteckt wurde. „Uneheliches Kind, arbeitsloser Vater oder das Hören lauter Musik konnten schon ein Grund sein, dass Familien getrennt wurden.“ Nora Wohlfarth vergegenwärtigt: „Es kann auch heute noch geschehen. Aber die Öffentlichkeit ist viel aufmerksamer geworden.“

Damals waren die Heime ein Teil der Gesellschaft und zählten als praktisch unantastbar. Die Einrichtungen genossen einen guten Ruf, und das besiegelte das Schicksal vieler Heimkinder. Nora Wohlfarth fordert, dass man die Strukturen auch heute noch im Blick haben muss. Dies bestätigt Birgit Meyer, Professorin an der Hochschule Esslingen: „Alle fünf Minuten stirbt heute weltweit ein Kind durch körperliche Gewalt.“

Vor 60 Jahren war es noch schlimmer, denn die Kinder hatten keine Chance, sich zu wehren. Es gab keine Vertrauenspersonen, und Kindern schenkte man kaum Glauben. „Man wollte es nicht wahrhaben, es wurde verschwiegen“, entrüstet sich Nora Wohlfarth. Joachim Bräunig von der Stiftung Jugendhilfe verdeutlichte: „Heute gibt es kaum noch zentrale Heime. Viele Kinder sind in Wohngruppen untergebracht, und der Weg nach draußen ist offen.“

Ausbeutung, Strafe, Demütigung gehörten zum Alltag in den Heimen. Es gab kaum ein Entkommen. Erst mit der Zeit begann die Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse. Über 18 000 ehemalige Heimkinder meldeten sich bei den regionalen Beratungsstellen. Bis heute erhielten knapp 14 500 Betroffene finanzielle Leistungen aus einem Fonds. In Baden-Württemberg haben sich über 2 400 gemeldet und knapp 1 900 erhielten Unterstützung. Allerdings sieht Birgit Meyer den Umgang mit den Betroffenen kritisch: „Der Zeitraum ist bis 1975 begrenzt, es hat auch danach noch Verfehlungen gegeben. Die Höchstsumme der Auszahlung ist auf 10 000 Euro begrenzt, und wer sich meldete, musste angeben, wofür das Geld aus dem Fonds verwendet werden sollte.“

Meyer spricht von der schwarzen Pädagogik in der frühen Bundesrepublik. „Gewalt, Prügel, Zwang und Erniedrigung waren an der Tagesordnung. Das Machtgefälle beruhte auf der Rollenverteilung.“ Viel wurde unter den Tisch gekehrt, oder Kinder trauten sich aus Scham nicht, sich zu wehren. Die Ausstellung soll genau diese Erlebnisse widerspiegeln. Meyer spricht von institutionellem Narzissmus, wenn sie an die vielen Heime denkt: „Nur nichts Schlechtes nach außen tragen.“

Aufarbeiten statt archivieren

Peter Müller, Leiter des Staatsarchivs Ludwigsburg, macht deutlich, wie wichtig die Archiv-Arbeit ist: „Die Suche nach Unterlagen war umfangreich. Viel schwieriger war es jedoch, das Vertrauen zu Betroffenen aufzubauen, um Informationen zu sammeln.“ Immerhin etwa 1 800 ehemalige Heimkinder meldeten sich beim Staatsarchiv. Müller hat eine klare Botschaft. „Wir müssen das Archiv bekannt machen. Vieles, was wir archiviert haben, dreht sich um Einzelschicksale, und wir müssen die Daten zugänglich machen.“ Er zeigt sich zufrieden, dass die Ausstellung nun an ihrem 19. Standort eröffnet wurde. „Es ist ein historisches Thema, verstärkt aber auch die Wichtigkeit der Archive.“

Die Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg wird durch den Beirat der Anlauf- und Beratungsstelle „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ unterstützt. Sie ist noch bis zum 23. November, jeweils von Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr im Festsaal und Foyer des Theodor-Rothschild-Hauses, Mülberger­straße 146 in Esslingen, zu sehen. Der Eintritt ist frei, Sondertermine und Führungen nach Absprache. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.heimerziehung-bw.de.Thomas Krytzner