Zwischen Neckar und Alb

Tagestouristen folgen den Neandertalern

Serie Von wegen „Schwäbisch Sibirien“! Die Alb ist herausragend: Sie ist Geopark, Biosphärengebiet und Entdeckerland mit Millionen Jahre alter Geschichte zugleich. Von Michael Hägele

Ähnlich wie in dieser Tunrdrenlandschaft in Alaska heute sah es vermutlich auf der Schwäbischen Alb aus, als Steinzeitmenschen h
Ähnlich wie in dieser Tundrenlandschaft in Alaska heute sah es vermutlich auf der Schwäbischen Alb aus, als Steinzeitmenschen hier jagten. Foto: Stephan M. Heidenreich, Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart

Wer heute als Tourist auf die Alb kommt, genießt die herrliche ursprünglich erscheinende Natur. Genau genommen befindet man sich jedoch in einem durch und durch vom Menschen geprägten Gebiet. Ohne die Rodungen früherer Jahrtausende wäre das Mittelgebirge heute vorwiegend mit Buchen bewaldet. Die Schwäbische Alb wandelte sich durch die Tätigkeit des Menschen mit stetig zunehmender Intensität - von der ursprünglichen Naturlandschaft zu einer vielseitigen Kulturlandschaft. Diese wird durch den Wechsel offener und bewaldeter Flächen als ästhetisch reizvoll wahrgenommen, als ein dichter „Urwald“. In ihr herrscht auch eine große Artenvielfalt.

Tundra wie in Sibirien

Bereits vor 100 000 Jahren lebten in den Tälern am Rand der Albhochfläche Neandertaler, deren Erbgut auch der heutige Mensch in sich trägt. Wie die frühen modernen Menschen lebten vermutlich auch sie in umherziehenden Gruppen. Ihre Spuren verlieren sich, als der moderne Mensch auf der Alb erschien. Während der Würm-Kaltzeit zog dieser zum Jagen von Mammut, Wollnashorn, Bison, Wildpferd und Rentier auf die Alb, die damals einer baumlosen Tundra glich, wie man sie heute im Norden Sibiriens oder in Alaska vorfindet. Der Beitrag der frühen Menschen zur Landschaftsgestaltung war vermutlich eher indirekt: Das Dezimieren der großen Säugetiere könnte eine wichtige Ausgangsbedingung für das nacheiszeitliche Ausbreiten des Waldes gewesen sein.

Während der wärmeren Nacheiszeit vor etwa 6000 Jahren siedelten im Gebiet der Alb die ersten Bauern, nach Keramikfunden werden sie als Bandkeramiker bezeichnet. Sie gestalteten erstmals bewusst die Naturlandschaft zur Kulturlandschaft um, indem sie den inzwischen flächendeckenden Wald rodeten und kleine Acker- und Siedlungsinseln schufen.

Etwa ab dem 8. Jahrhundert vor Christus begannen die Hochkulturen der Bronze- und der Eisenzeit die Schwäbische Alb zu bewohnen. In dieser Epoche blühte neben Handwerkskunst, Siedlungsgründung und Ackerbau auch der europaweite Handel. Landschaftsprägend sind neben Hügelgräbern große Burganlagen wie die Heuneburg bei Herbertingen oder Siedlungen wie das keltische Oppidum bei Grabenstetten.

Nach der Jahrtausendwende drangen von Süden die Römer in die Region vor. Sie errichteten den sogenannten „Alblimes“, eine Reihe von befestigten, durch Straßen verbundene Kastelle samt zugehörigen Dörfern und Gutshöfen. Wie in anderen Gebieten wurden die römischen Straßenabschnitte in späteren Epochen weiter verwendet beziehungsweise ausgebaut. Ein Abschnitt des „Alblimes“ zeichnet sich heute noch zwischen Zainingen und Gruorn auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen ab. Mit den Alamannen und den Franken kamen ab dem 4. Jahrhundert neue Siedler auf die Alb.

Viele Orte, deren Namen auf „-ingen“ enden, gehen auf alamannische Gründungen zurück. Häufig haben die älteren fränkischen Siedlungen die Namensendung „-heim“. Mit der Hochphase des mittelalterlichen Siedlungsausbaus während einer klimatisch optimalen Phase vom 10. bis 13. Jahrhundert entstanden nochmals neue Siedlungen, vorhandene Städte und Dörfer wuchsen. Durch die gestiegene Bevölkerungszahl war es notwendig, die Lebensmittelproduktion zu steigern und dazu immer mehr Wald zu roden.

Mit der im 19. Jahrhundert am Rand, aber auch auf der Alb einsetzenden Industrialisierung erreichte die Umgestaltung der Landschaft eine neue Qualität. Nun wurden vermehrt Straßen und Eisenbahnlinien gebaut, die kleineren Albstädte begannen das Korsett mittelalterlicher Ummauerung zu sprengen und Dörfer vervielfachten ihre Siedlungsfläche. Außerdem wurde die Schafhaltung intensiviert, um die Spinnereien in den Tälern mit ausreichend Wolle versorgen zu können, mit der Folge der Ausbreitung der typischen Wacholderheiden. Nach kontinuierlichem Wachstum der Bevölkerung und dem Wandel von der Agrar- über die Industrie- zu einer Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft kommt heute der Alb neben der Funktion als Lebensraum auch die gesellschaftlich wichtige Aufgabe als Erholungs- und Erlebnisraum mit vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt zu. Was für die Bewohner der herben Alblandschaft schon immer gilt - dass sie die Landschaft prägen und zugleich von dieser geprägt sind - das gilt heute auch für alle, die auf die Alb kommen, um ihre Freizeit in dieser einzigartigen Kulturlandschaft zu verbringen.