Kirchheim. Mit ihrem im Herbst 2009 erschienenen Debütroman „Kürzere Tage“ hat es die in Stuttgart lebende Anna Katharina Hahn praktisch aus dem Stand geschafft, in die Auswahlliste des Deutschen Buchpreises aufgenommen zu werden.
Dass es dem Buchhaus Zimmermann seinerzeit gelungen war, sie im Rahmen ihrer Reihe „Literarische Begegnungen“ in Kirchheim begrüßen zu dürfen, war eine kleine Sensation, die jetzt mit ihrem neuen Buch wiederholt werden konnte.
Nach der ersten Begegnung mit der hochgelobten Autorin hatte Geschäftsführerin Sibylle Mockler die Ankündigung eines neuen Romans von Anna Katharina Hahn genügt, um sich umgehend intensiv um einen erneuten Termin für eine Lesung der sprachgewaltigen Literatin mit naturalistischer Beobachtungskraft zu bemühen. Dass inzwischen auch Anna Katharina Hahns „Am Schwarzen Berg“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 nominiert wurde, bestätigt, dass die Geschäftsführerin ein sicheres Gespür für literarische Ausnahmeerscheinungen hat.
An der Dramaturgie des Auftritts hat sich gegenüber der Premiere eigentlich nichts geändert. Anna Katharina Hahn neigt nicht zum unverbindlichen Plaudern und drängt sich ihrem Publikum schon gar nicht auf. Die Autorin wirkt eher distanziert und distinguiert und konzentriert sich nicht auf Kommentare und gefällige Überleitungen, sondern lässt ihre Arbeit für sich sprechen. Von sich selbst gibt sie überhaupt nichts preis, lässt aber ihren Romanfiguren praktisch keine Rückzugsflächen.
Ihr Denken, Fühlen und Handeln wird genauso gnadenlos vor den Lesern ausgebreitet, wie alles, was an ihnen oder in ihrem Umfeld zu sehen, zu riechen und zu hören ist. Das literarisch überzeugende Schwelgen in Details macht es dabei nicht immer leicht, die für die Gesamtübersicht wichtigen Konturen immer im Blick zu behalten. Man sieht beispielsweise Peters genau beschriebene eitrige Pickel auf einem zwischen hochgerutschtem Hemd und Hosenbund für Sekunden freiliegenden Hautstreifen förmlich vor sich oder weiß um seiner Mutter „Besenreißer, die sich hochzogen bis zu den Oberschenkeln und das nachgiebige, gut eingecremte Fleisch mit einem amethystblauen Netz überzogen“, bevor man die dazugehörende Person überhaupt richtig kennengelernt hat.
Mit fast wissenschaftlich anmutender Akribie nähert sich Anna Katharina Hahn zuweilen ihren Personen, deren Körper sie wie bei einer Obduktion gewissenhaft aber scheinbar unbeteiligt seziert. Genauso nüchtern offenbart sie auch deren Denken und Fühlen und grundsätzlich alles, was sie selbst ihnen ja mit auf den Weg gegeben hat. Wenn sie mit seismografischem Blick ihre fiktive Welt selbst auf kleinste Details hin untersucht und ihrem erfundenen Personal gnadenlos auf den Leib rückt, müssen ihr die Leser dabei bedingungslos folgen.
Nur wer bereit ist, sich auf die von ihr gezeichnete Milieustudie der Welt am Stuttgarter „Schwarzen Berg“ einzulassen und mitzuschwingen, wird von der Autorin in eine Geschichte hineingezogen, in der es „um Lebenskrisen und Beziehungen, um das Scheitern im Leben überhaupt, um Bildung und Verwahrlosung, aber auch um Mörike, Eichendorff und das Bahnprojekt Stuttgart 21“ geht. Dass diese Mischung von Themen, die oberflächlich betrachtet wenig miteinander zu tun haben, „ziemlich ungewöhnlich“ ist, räumt Sibylle Mockler dabei gerne ein.
Sie attestiert aber der Autorin, dass sie es einmal mehr schafft, sie literarisch und psychologisch äußerst klug und interessant miteinander zu verbinden. „Wie schon bei ‚Kürzere Tage‘ tarnen sich Hahns Personen mit ihrem gesellschaftlichen Status und ihrer Alltagssicherheit, doch schon auf den ersten Seiten des Buches zeigt sich, wie durchsichtig und scheinheilig diese Tarnung ist“.
Im Mittelpunkt der vorgelegten Studie stehen die im Stadtteil Burghalde nebeneinander wohnenden Ehepaare Rau und Bub. Die kinderlosen schöngeistigen Bubs – er bibliophil-orientierter Lehrer für Deutsch und Geschichte, sie Bibliothekarin – kümmerten sich schon immer etwas übereifrig um den wohlbehüteten Sohn des benachbarten Ärztepaares. Peter, der des standesgemäßen Heims in anspruchsvoller Halbhöhenlage und der zielstrebig verfolgten Karriere wegen immer etwas vernachlässigt wurde, wird von seiner Frau Mia und seinen Söhnen verlassen, denen er immer ein guter Vater war. Nach dem Scheitern seiner Beziehung kehrt er schwer angeschlagen an die Stätte seiner unschuldigen Kindheitstage zurück.
Es ist eine Rückkehr in die vermeintlich glückliche Idylle der Bürgerlichkeit seiner leiblichen Eltern und deren Nachbarn, die ihm die Welt der Literatur eröffnet und ihm damit vor allem auch Eduard Mörike ungemein nahegebracht hatten. Der Buchtitel ist nicht nur eine Adresse in Stuttgart, sondern der Beginn eines Mörike-Gedichts: „Am schwarzen Berg da steht ein Riese, Steht hoch der Mond darüber her; Die weißen Nebel auf der Wiese / Sind Wassergeister aus dem Meer: / Ihrem Gebieter nachgezogen /Vergiften sie die reine Nacht, / Aus deren hoch geschwungenen Bogen / das volle Heer der Sterne lacht“.