Kirchheim

Das geistliche Wort

Ab welchem Alter kann man sich in die Lage eines anderen Menschen versetzen? Die Psychologie sagt: Ab vier Jahren ist ein Kind normalerweise dazu in der Lage. Um das zu zeigen, kann man einem dreijährigen Kind, eine Keksdose hinhalten und fragen: „Was ist da drin?“ Wenn es die Dose kennt, wird es antworten: „Kekse“. Daraufhin öffnet man die Dose und zum Vorschein kommen Buntstifte.

Nun schließt man die Dose wieder und fragt: „Wenn jetzt deine große Schwester hereinkommt und wir fragen sie: ,Was ist da drin?‘, was wird sie antworten?“ Das dreijährige Kind antwortet ohne zu zögern: „Buntstifte“; denn es kann sich nicht vorstellen, dass die große Schwester nicht das gleiche weiß, wie es selbst. Deshalb verstecken sich kleine Kinder auch manchmal so, dass sie sich die Hände vor ihre Augen halten. Wenn sie ihre Mama nicht sehen können, - so denken sie - kann die Mama sie auch nicht sehen. Vierjährige und ältere Kinder können sich dagegen in andere hineinversetzen.

Doch nicht nur Dreijährigen fällt es schwer, sich in andere hineinzuversetzen. Als kürzlich in der Schule wieder Kinder andere Kinder mit Ausdrücken überhäuft und geärgert haben, fragte ich mich: haben diese Acht- bis Zehnjährigen noch nicht gelernt, sich in ihre Mitschüler hineinzuversetzen? Und dann denke ich weiter: wie steht es denn mit uns Erwachsenen bei dieser Frage? Sogar Menschen von Bildung und politischem Einfluss haben damit offenbar Schwierigkeiten. Das sehen wir täglich in den Nachrichten. Dabei klingt es so einfach in der Goldenen Regel der Bergpredigt: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

So einfach es klingt, so schwierig ist es. Was brauchen wir, um mit anderen mitfühlen zu können, ohne dass uns schon nach Kurzem die Puste ausgeht? Hier der Versuch einer grob skizzierten Antwort:

1. Wir selbst brauchen andere Menschen, die mit uns mitfühlen können, die das nicht weitererzählen, was wir ihnen anvertrauen. Das können gute Freunde sein oder auch Seelsorgerinnen und Seelsorger, die sich zur Verschwiegenheit verpflichtet haben.

2. Wir brauchen einerseits die Kraft zum Mitfühlen (das kann anstrengend sein), andererseits müssen wir die Last des Mitgefühls auch abgeben können. Kein Arzt darf mit jedem seiner Patienten „mitsterben“, wenn er helfen will.

Was hat das mit dem christlichen Glauben zu tun? Sehr viel! Gott kann mit uns mitfühlen. Er kann sich in uns hineinversetzen. Er wurde Mensch, nicht um als göttlicher Superstar Geschichten zu machen. Er kennt das Gefühl, abgelehnt, verachtet, verhasst zu sein. Er ist der Arzt, der sogar mit uns, sogar für uns gestorben ist. Und wenn unsere eigenen Lasten und die von anderen, mit denen wir mitfühlen, zu schwer sind, dann sagt er: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“

Nehmen Sie dieses Angebot wahr, rät Ihnen

Christoph Schilling

Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Ohmden