Kirchheim

Den Rettungsdiensten gehen die Retter aus

Hilfe Notfallsanitäter sollen Notärzte unterstützen. Seit 2014 gibt es sie auch im Landkreis Esslingen – mit gehörigen Anlaufschwierigkeiten. Von Daniela Haußmann

Im Ernstfall zählt jede Sekunde. Deswegen setzt man seit 2014 auch im Landkreis Esslingen auf Notfallsanitäter. Foto: Daniela Ha
Im Ernstfall zählt jede Sekunde. Deswegen setzt man seit 2014 auch im Landkreis Esslingen auf Notfallsanitäter. Foto: Daniela Haußmann

Seit einiger Zeit sind auch im Landkreis Esslingen Notfallsanitäter im Einsatz. Anders als Rettungsassistenten sollen sie am Einsatzort mehr medizinische Kompetenzen haben. Kranke und Verletzte sollen so schnellstmöglich Hilfe erhalten. Dr. Thorsten Lukaschewski begrüßt diese Art der Stärkung des Rettungsdienstes. Wenn es um Leben und Tod geht, zählt jede Sekunde, wie der Chefarzt der Anästhesie der Medius-Klinik Kirchheim betont. Im Landkreis Esslingen erreicht der Notarzt dem Fachmann zufolge zwar 50 Prozent der Patienten in rund neun Minuten, in 95 Prozent der Fälle ist er in weniger als 15 Minuten vor Ort. „Doch bis zu seinem Eintreffen kann der Notfallsanitäter wertvolle Hilfe leisten“, ist Lukaschewski überzeugt. „Das neue Berufsbild soll den Notarzt nicht ersetzen, sondern ihn für lebensbedrohliche Situationen verfügbar halten.“

Michael Wucherer, Leiter des DRK Rettungsdienstes Esslingen-Nürtingen, sieht es ähnlich: „Ein Notfallsanitäter ist vor allem Personal, das imstande ist, lebensbedrohlich Verletzte oder Kranke auch mit invasiven Maßnahmen eigenverantwortlich von der Notfallstelle bis zur Notaufnahme zu versorgen.“ Dazu gehören auch das Verabreichen von Schmerzmitteln oder das Legen von venösen Zugängen. Schließlich nimmt die dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter ein Jahr mehr in Anspruch als die zum Rettungsassistenten.

Genau das sorgt bei vielen Hilfsorganisationen für Kopfzerbrechen. „Faktisch stehen derzeit nicht genügend Notfallsanitäter zur Verfügung, weil diejenigen, die 2014 angefangen haben, gerade die Ausbildung abschließen“, berichtet Marc Lippe, Rettungsdienstleiter vom Malteser Hilfsverein Landkreis Esslingen/Reutlingen. Bis Ende 2020 müssen alle Rettungsassistenten die Weiterqualifizierung zum Notfallsanitäter durchlaufen haben. Bei den Maltesern handelt es sich kreisweit um 35 und beim DRK um 160 hauptamtlich Beschäftigte, von denen in absehbarer Zeit ein Gutteil drei Monate am Stück im Rettungsdienst fehlt. Hinzu kommen Altersabgänge, Elternzeiten, Krankenstände, Teilzeitbefristung - so verschärfen sich mit der Ausbildungsumstellung Personalengpässe, die sich schwer überbrücken lassen. Bei den Mitarbeitern haben sich inzwischen pro Kopf etwa 150 bis 250 Überstunden angesammelt, die derzeit nicht abgebaut werden können.

Aktuell verzeichnet der Rettungsdienst in Baden-Württemberg ein Defizit von circa 250 Mitarbeitern. Stellenausschreibungen nutzen wenig, denn die erforderlichen Fachkräfte - allesamt Notfallsanitäter - sind auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden. „Stelle ich in der Situation einen Assistenten ein, dann verlagert sich das Problem auf eine andere Hilfsorganisation“, klagt Michael Wucherer vom DRK. Deshalb hatten die Rettungsdienste vor Einführung des neuen Berufsbildes eine Umstellungszeit von zwei Jahren gefordert, um zusätzliche Assistenten auszubilden. „Die aktuelle Misere hätte sich so vermeiden lassen“, kritisiert Marc Lippe.

Jedes Jahr rückt das DRK Esslingen-Nürtingen zu rund 40 000 Einsätzen aus, von denen etwa 40 Prozent ein Fall für den Hausarzt sind. „Solche Notrufe binden ohnehin knappe Ressourcen. Die Be- und Auslastung der Rettungswagen hat massiv zugenommen“, sagt Michael Wucherer. Vor 2014 entfielen auf jeden Mitarbeiter sechs Einsätze pro Tag, heute sind es zehn und mehr. Dass Beschäftigte beispielsweise in den Klinikbereich abwandern, schließt der Experte nicht aus.

Marc Lippe kritisiert auch, dass Notfallsanitäter nach geltender Gesetzeslage im Ernstfall nicht mehr tun dürfen, als Rettungsassistenten durften. Droht der Patient zu sterben oder sind gravierende Folgeschäden zu erwarten, können Sanitäter im sogenannten „rechtfertigenden Notstand“ eigenverantwortlich handeln - trotzdem tut sich eine juristische Grauzone auf. Dr. Michael Schulze von der Landesärztekammer Baden-Württemberg fordert daher landesweit den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) zu institutionalisieren, der im Rahmen des Notfallsanitätergesetzes Aufgaben delegiert. „So entsteht für den ÄLRD und die Retter Rechtssicherheit.“ (siehe Nachgefragt)