Lokale Kultur

Die Biografie ist entscheidend

Joachim Zelter las im Max-Eyth-Haus aus „Einen Blick werfen“

Kirchheim. Es muss nicht immer Mörike oder Schiller sein, um den „Schulraum“ des Max-Eyth-Hauses

komplett zu füllen. Ein zeitgenössischer Autor schafft das auch, Joachim Zelter aus Tübingen, der aus seiner 2013 erschienenen „Literaturnovelle“ vorlas und anschließend mit den Zuhörern diskutierte.

Er legte gleich mit dem Anfangskapitel los und zog vom ersten Moment an die Zuhörer in seinen Bann. Zutreffend wurde er in einem Interview des SWR als „Vorlesekünstler“ bezeichnet. In rasantem Tempo modellierte er auch stimmlich die beiden Hauptakteure der Geschichte heraus, einen Ich-Erzähler, von Beruf Schriftsteller, und einen Möchtegernautoren, Selim Hacopian. Der Name signalisiert schon, dass es sich um einen Immigranten handelt. Der Schriftsteller erhält von dem ihm unbekannten Selim eine E-Mail und erfährt, dass Selim imponierende Lebensstationen aufzuweisen hat: „Geboren in Namangan, Usbekistan, Übersiedelung der Familie nach Pakistan, von dort ausgewandert nach Ägypten, Religion koptisch. Davor andere Konfessionen. Offiziersanwärter. Eine erste Chinareise. Eine zweite Chinareise. Kamelreitlehrer. Pyramidenführer. Tauchlehrer. Übersiedlung nach Deutschland. Begegnung mit Gerhard Schröder. Koch auf einem Flussschiff. Studium der Byzantinistik und Ägyptologie . . .“ Dieser weltläufige Mensch hat „ein Buch geschrieben“. Er würde „gerne was schieken“. Die Antwort ist einsilbig, verhindert aber nicht, dass der Schriftsteller von Selim in der Stadt als „Herr Schrieftsteller“ angesprochen und angehimmelt wird. Man ahnt: Es hapert dem Möchtegernschriftsteller Selim Hacopian an den fundamentalsten Rechtschreibkenntnissen. Alle Abwehrversuche des Ich-Erzählers nützen nichts. Er muss stunden-, wochen-, monatelang immer wieder „einen Blick werfen“ in immer weitere, sprachlich chaotische Texte. Zuerst ist es ein Drama, dann mutiert es zu einem Roman. Schließlich steigert sich die Absurdität der Texte: Selim schreibt über Kamele, die auf dem Kairoer Flughafen Flugzeugflügel anfressen. Diesen Text schickt Selim an Verlage und bekommt von einem „eminenten“ Verlag die sofortige Rückmeldung „mehr davon“. Das ist die „unerhörte Begebenheit“ dieser „Novelle“. Der seriöse Schriftsteller kann es nicht fassen, der Zuhörer auch nicht und hat endgültig erkannt, dass es sich um eine Satire handelt, die von der Übertreibung lebt, eine Satire über den zeitgenössischen Literaturbetrieb. Das Buch wird vermarktet. Der Klappentext spricht von der „Fabulierlust orientalischer Caféhauserzähler“, von „lakonischer Eleganz und Leichtigkeit des Erzählens“. Die Massenauflage füllt orientalisch dekorierte Schaufenster, ein Hörbuch wird hergestellt und Lesereisen veranstaltet, über die die Feuilletons unisono begeistert berichten. Kurz­um: Der ganze Literaturbetrieb hat mit Qualitätskontrolle nichts zu tun.

Moment mal, dann ist ja auch dieser Bericht über eine Lesung nichtig. Diese Depression muss überwunden werden, um weiterberichten zu können.

Das sprachlich unsägliche Buch wird zum Bestseller. Der Ich-Erzähler, der um jedes Wort kämpfende wahre Schriftsteller, hat mit einer Absatzflaute zu kämpfen, bis, ja bis . . . – die Pointe am Schluss verriet Joachim Zelter nicht.

Wie bei jeder Satire gibt es im Grunde einen Missstand zu beklagen. In „Der Ministerpräsident“, dem bekanntesten Roman von Joachim Zelter, ist es die Hohlheit des politischen Betriebes, in „Einen Blick werfen“ die Deformation der literarischen Wertmaßstäbe: „Nach Sturm und Drang, Aufklärung, Romantik, Naturalismus, Expressionismus, Realismus, Neorealismus – nun also Curricularismus oder Curricularer Vitalismus. Es geht um die Durchschlagskraft eines imposanten Lebenslaufs. Ein Autor lebt nicht von seiner Sprache oder von einer Leidenschaft oder einer Idee, sondern von einem Lebenslauf. Von nichts sonst. Das Geschriebene ist nur noch eine Begleiterscheinung, eine Nebensache.“ So Joachim Zelter in einem Sachtext im Anhang. Übrigens hat auch er ein biografisches Pfund in die Waagschale zu werfen: Er ist direkter Nachfahre des von Goethe so hoch geschätzten Musikers Carl Friedrich Zelter.

Nach der Lesung folgte eine ausgesprochen muntere Befragung des Autors. Gastgeberin Renate Treuherz vom Literaturbeirat begann. Ja, er habe Anfeindungen erlebt wegen Fremdenfeindlichkeit, die es nicht gebe. – Gerade die falschen Schriftstellerkollegen hätten sich getroffen gefühlt. – Ja, es gebe auch erfolgreiche Autoren mit langweiliger Biografie. Bei ihnen sei aber selten das sprachliche Kunstwerk, sondern mehr der publikumswirksame Plot ausschlaggebend.

Des Weiteren umkreisten die Fragen und Diskussionsbeiträge das Problem der Leseförderung in den Zeiten der elektronischen Medien. Schwarzsehen und lamentieren hilft nichts. Es gilt, die Literatur in die neuen Medien zu integrieren und zu hoffen, dass die literarische Kultur weitergetragen wird.

Dass die Zuhörer durch die gekonnte Lesung eines in geschliffener Sprache geschriebenen Textes, bei dem es viel zu lachen gab, Appetit auf die Lektüre bekommen haben, zeigte am Schluss der rege Absatz des Bändchens.