Wer will, kann die Brücke schlagen vom bürgerlichen Volkstum zum proletarischen Klassenkampf. Die Verbindung: Beide Seiten tun sich schwer mit Traditionen. Die Maibaum-Errichtung - seit fünf Jahrzehnten ein vom Trachtenverein gehätscheltes Kulturgut in Kirchheim - war die erste Bastion, die fiel. Jetzt rollen die Maimarschierer ihre Fahnen ein. Keine DGB-Kundgebung zum Tag der Arbeit. Seit Gewerkschaftsgründung vor knapp 70 Jahren gab es das in Kirchheim noch nie. Der Grund ist so einleuchtend wie banal: Es gibt niemand, der sich um die Sache kümmert. Bisher tat das Wolfgang Scholz. Der war 31 Jahre lang Vorsitzender des DGB-Ortsvereins. Seit Dezember ist er Rentner und inzwischen mit Frau und Wohnwagen für unbestimmte Zeit auf Reise quer durch Europa unterwegs. Mit ihm hat sich auch die Gewerkschaftsarbeit vor Ort in den Ruhestand verabschiedet. Er habe bis zuletzt um eine Nachfolge gekämpft. „Doch dahinter steckt eine Menge Arbeit“, sagt Scholz. „Die wollte eben keiner mehr machen.“
Der Kampf gegen prekäre Löhne und eine gerechtere Gesellschaft, er findet am Montag in Nürtingen und Esslingen statt. „Eine dritte Veranstaltung wäre angesichts des Personalmangels in Kirchheim zu aufwendig gewesen“, sagt der stellvertretende DGB-Kreisvorsitzende Jürgen Groß. „Jetzt sollen die Kirchheimer halt nach Nürtingen fahren.“
Eine Nachricht, die wenig dramatisch klingt, waschechte Genossen jedoch im roten Mark trifft. Andreas Kenner hat seit den Siebzigern in seiner Heimatstadt keine Mai-Kundgebung verpasst. Heute sitzt er für die SPD im Landtag und fragt sich, wo all die Arbeiter geblieben sind. Er hat die Zeiten erlebt, als es am Ende des Protestmarsches schwer war, in der Konrad-Widerholt-Halle einen freien Platz zu ergattern. Für vier Generationen in der Familie war der Tag ein Fixpunkt im Kalender. Symbolträchtig und hart erkämpft, wie er sagt. Dass Kirchheimer Protest sich nun in Nürtingen Bahn brechen soll? „Das ist nicht dasselbe“, meint Kenner. „Geschlossen um den Alleenring zu ziehen, das hat eine ganz andere Symbolik.“
Volkshaus hält die Fahne hoch
Was auch Traditionalisten einräumen müssen: Ohne den türkischen Kollegen am Arbeitsplatz wäre der politische Kampfgeist in Kirchheim schon viel früher erloschen. Die Mitglieder des Vereins Volkshaus, die sich seit vielen Jahren an der Kundgebung beteiligen, kämpfen auch jetzt gegen das Aus. Ihr Frontmann: ein 27-Jähriger. „Wir wollen keine Alternativveranstaltung ins Leben rufen“, sagt Can Karakas. „Aber wir wollen die Tradition auch nicht sterben lassen.“
Deshalb werden sie sich am Montag um 13.30 Uhr vor dem Rathaus versammeln, für eine gerechtere Gesellschaft demonstrieren und anschließend ein Fest feiern, zu dem jeder willkommen ist. Karakas rechnet mit 150 Leuten. Was er bedauert: Von Gewerkschaftsseite wollte niemand die Aktion unterstützen. Dass das angespannte Verhältnis nach dem Referendum in der Türkei ein Grund sein könnte, bestreitet DGB-Sprecher Jürgen Groß. „Wir werden uns einfach an keiner Veranstaltung beteiligen, die wir nicht selbst organisieren.“