Kirchheim

Die Genossen sind müde

Kundgebung Zum Tag der Arbeit zeigt der DGB fast überall im Land Flagge. In Kirchheim bleiben die roten Fahnen im Keller – zum ersten Mal seit Kriegsende. Von Bernd Köble

Heraus zum 1. Mai: Bis vergangenes Jahr galt das auch in Kirchheim. 2017 bleibt die Teckstadt gewerkschaftsfreier Raum.Foto: Den
Heraus zum 1. Mai: Bis vergangenes Jahr galt das auch in Kirchheim. 2017 bleibt die Teckstadt gewerkschaftsfreier Raum.Foto: Deniz Calagan

Wer will, kann die Brücke schlagen vom bürgerlichen Volkstum zum proletarischen Klassenkampf. Die Verbindung: Beide Seiten tun sich schwer mit Traditionen. Die Maibaum-Errichtung - seit fünf Jahrzehnten ein vom Trachtenverein gehätscheltes Kulturgut in Kirchheim - war die erste Bastion, die fiel. Jetzt rollen die Maimarschierer ihre Fahnen ein. Keine DGB-Kundgebung zum Tag der Arbeit. Seit Gewerkschaftsgründung vor knapp 70 Jahren gab es das in Kirchheim noch nie. Der Grund ist so einleuchtend wie banal: Es gibt niemand, der sich um die Sache kümmert. Bisher tat das Wolfgang Scholz. Der war 31 Jahre lang Vorsitzender des DGB-Ortsvereins. Seit Dezember ist er Rentner und inzwischen mit Frau und Wohnwagen für unbestimmte Zeit auf Reise quer durch Europa unterwegs. Mit ihm hat sich auch die Gewerkschaftsarbeit vor Ort in den Ruhestand verabschiedet. Er habe bis zuletzt um eine Nachfolge gekämpft. „Doch dahinter steckt eine Menge Arbeit“, sagt Scholz. „Die wollte eben keiner mehr machen.“

Der Kampf gegen prekäre Löhne und eine gerechtere Gesellschaft, er findet am Montag in Nürtingen und Esslingen statt. „Eine dritte Veranstaltung wäre angesichts des Personalmangels in Kirchheim zu aufwendig gewesen“, sagt der stellvertretende DGB-Kreisvorsitzende Jürgen Groß. „Jetzt sollen die Kirchheimer halt nach Nürtingen fahren.“

Eine Nachricht, die wenig dramatisch klingt, waschechte Genossen jedoch im roten Mark trifft. Andreas Kenner hat seit den Siebzigern in seiner Heimatstadt keine Mai-Kundgebung verpasst. Heute sitzt er für die SPD im Landtag und fragt sich, wo all die Arbeiter geblieben sind. Er hat die Zeiten erlebt, als es am Ende des Protestmarsches schwer war, in der Konrad-Widerholt-Halle einen freien Platz zu ergattern. Für vier Generationen in der Familie war der Tag ein Fixpunkt im Kalender. Symbolträchtig und hart erkämpft, wie er sagt. Dass Kirchheimer Protest sich nun in Nürtingen Bahn brechen soll? „Das ist nicht dasselbe“, meint Kenner. „Geschlossen um den Alleenring zu ziehen, das hat eine ganz andere Symbolik.“

Volkshaus hält die Fahne hoch

Was auch Traditionalisten einräumen müssen: Ohne den türkischen Kollegen am Arbeitsplatz wäre der politische Kampfgeist in Kirchheim schon viel früher erloschen. Die Mitglieder des Vereins Volkshaus, die sich seit vielen Jahren an der Kundgebung beteiligen, kämpfen auch jetzt gegen das Aus. Ihr Frontmann: ein 27-Jähriger. „Wir wollen keine Alternativveranstaltung ins Leben rufen“, sagt Can Karakas. „Aber wir wollen die Tradition auch nicht sterben lassen.“

Deshalb werden sie sich am Montag um 13.30 Uhr vor dem Rathaus versammeln, für eine gerechtere Gesellschaft demonstrieren und anschließend ein Fest feiern, zu dem jeder willkommen ist. Karakas rechnet mit 150 Leuten. Was er bedauert: Von Gewerkschaftsseite wollte niemand die Aktion unterstützen. Dass das angespannte Verhältnis nach dem Referendum in der Türkei ein Grund sein könnte, bestreitet DGB-Sprecher Jürgen Groß. „Wir werden uns einfach an keiner Veranstaltung beteiligen, die wir nicht selbst organisieren.“

Vom Kampftag zum Feiertag

Die Geschichte des Ersten Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterklasse hat ihre Wurzeln in den USA. 1886 schlossen sich Fabrikarbeiter in Chicago erstmals zusammen, um mit einem Streik für bessere Bezahlung und die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages zu kämpfen.

Zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland wurde der Erste Mai erstmals 1919 von der Weimarer Nationalversammlung erklärt - und im selben Jahr wieder abgeschafft, weil Sozialdemokraten und bürgerlich-rechte Opposition sich nicht einigen konnten. Arbeiter und Gewerkschaften hielten an der Tradition der Maifeiern fest. Dabei ging es nicht immer friedlich zu: Der Erste Mai 1929 ging als „Blutmai“ in die Geschichte ein. Der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten entlud sich bei Demonstrationen in Berlin in einer wilden Schießerei, bei der 28 Menschen getötet wurden.

Die Nationalsozialisten erklärten den Ersten Mai 1933 zum „Tag der nationalen Arbeit.“ Ein Jahr später wurde daraus ein „Nationaler Feiertag des deutschen Volkes.“ Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften dienten die Maifeiern den Nazis vor allem als Kulisse für militärische Paraden.

In der Bundesrepublik wurde der Erste Mai wieder zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist seit seiner Gründung 1949 zentraler Veranstalter der Maikundgebungen. Vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen wandelte sich der einstige Kampftag im Laufe der Jahrzehnte zunehmend zum Volksfest mit buntem Kulturprogramm.bk