Kirchheim

Die Idylle vom „sauberen“ Städtchen

Vortrag Kirchheims Stadtarchivar Frank Bauer stellt in der Reihe „Geschichte vor Ort“ sein Promotionsthema vor: „Vorstellungen von ,Deutschtum‘ in Ungarn in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts“. Von Andreas Volz

Frank Bauer referiert im Spitalkeller über Begriffe wie „Heimat“ und „Fremde“.Foto: Carsten Riedl
Frank Bauer referiert im Spitalkeller über Begriffe wie „Heimat“ und „Fremde“.Foto: Carsten Riedl

Was ist von Max Eyth geblieben? Die Erinnerung an Dampfungetüme, die vorsintflutlich wirken. Wodurch aber hat Max Eyth seine Zeitgenossen im 19. Jahrhundert fasziniert? Durch seine Reiseberichte. Als Ingenieur, der seine landwirtschaftlichen Maschinen vor Ort beworben hat, war er schließlich ganz schön rumgekommen auf dem Globus.

Die Erwähnung Max Eyths war der „Kirchheimer Block“ bei der „Antrittsvorlesung“ des neuen Stadtarchivars Frank Bauer im Spitalkeller. Sein Vorvorgänger Roland Deigendesch hatte die dazugehörige Reihe „Geschichte vor Ort“ 2009 gemeinsam mit Iris-Patricia Laudacher als Kooperation zwischen Stadtarchiv und Volkshochschule ins Leben gerufen.

Frank Bauer bedauerte, dass er noch nicht mit einem lokalgeschichtlichen Thema aufwarten konnte und stattdessen seine Promotionsarbeit präsentierte: „Vorstellungen von ,Deutschtum‘ in Ungarn in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts“. Das Thema hat viele Bezüge zur Gegenwart.

Ungarn war damals ein Teil der österreichischen Donaumonarchie, seit dem Ausgleich 1867 sogar ein sehr autonomer Teil, gleichberechtigt mit dem österreichischen Reichsteil. Die eigentlichen Ungarn - die Magyaren, die auch wirklich Ungarisch sprachen - stellten um 1890 nicht ganz 43 Prozent der Bevölkerung. Nationalitäten spielten eine eher untergeordnete Rolle. Deswegen hat Frank Bauer das „Deutschtum“ auch in Anführungszeichen gesetzt.

Die Sprache war entscheidend. Nicht jeder, der Deutsch sprach, war deswegen auch ein Deutscher - schon gar nicht im Sinne der heutigen Staatsangehörigkeit. Wer aufsteigen wollte, passte sich an und sprach Ungarisch. Ein Beispiel dafür ist Sándor Wekerle: Seinen deutschen Nachnamen behielt er zwar, aber den „Alexander“ übersetzte er in den ungarischen „Sándor“. So konnte er Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts ungarischer Ministerpräsident werden - angefeindet von „Landsleuten“, die ihm vorwarfen, sein „Deutschtum“ verraten zu haben.

Dieses „Deutschtum“ orientierte sich in Reiseberichten an den Werten des Bürgertums. Gerade in Siebenbürgen zeichneten sich die „Deutschen“ durch einen hohen Bildungsgrad aus und vertraten genau dieselben Werte wie das Bildungsbürgertum, das die Reiseberichte las. Deswegen schreiben die Autoren von einer deutschen Idylle in Ungarn: Fachwerkhäuser und enge Gassen prägen die „sauberen“ Städtchen. Gegenstück sind einerseits die „dreckigen Strohhütten“ der anderen, der Nicht-Deutschen, und andererseits die Großstadtmoloche wie Berlin, Leipzig oder Frankfurt - geprägt von Industrie und Eisenbahn. Dabei war es genau diese verteufelt unnatürliche Eisenbahn, die das Reisen erst ermöglichte oder es zumindest deutlich erleichterte.

War Goethe noch gereist um des Reisens willen, ging es jetzt darum, um des Ankommens willen zu reisen - dank der Eisenbahn. Gesucht haben die Reisenden auch damals schon nach Ursprünglichkeit. Unter anderem deswegen reisten „Individualtouristen“ gerne nach Ungarn. Frank Bauer: „Das war so exotisch wie Afrika, nur nicht so weit weg.“ Die Karpaten waren die Gebirgslandschaft für diejenigen, denen die Alpen bereits zu überlaufen waren.

Reisen nach Sternchen-System

Auch damals waren bereits Baedeker-Touristen unterwegs - mit entsprechend veränderten Sehgewohnheiten: „Der erste Baedeker ist 1835 erschienen, als auch die erste Eisenbahn in Deutschland fuhr. Er hatte von Anfang an sein Sternchen-System. Damals schon haben die Menschen die Kirche mit dem Sternchen besucht. Die Kirche daneben, die kein Sternchen hatte, blieb unbeachtet.“

Und das „Deutschtum“? Auch da wurde nach dem Idealen gesucht. Deutschsein bedeutete: fleißig, pünktlich, gebildet sein. Frank Bauers Fazit: „Wenn ich das im 19. Jahrhundert immer so lese, dann will ich das auch sein, weil ich ja Deutscher bin. Diese Zuschreibungen prägen uns bis heute.“