Kirchheim

Ein Albtraum ohne Erwachen

Die WLB Esslingen gastiert mit Kafkas „Prozess“ in der Kirchheimer Stadthalle

Kirchheim. Schon wieder ein Roman, der für die Bühne bearbeitet wird. Diesmal ein herausragendes Werk. Kafkas Romanfragment von

1914 hat weltweit eine unvergleichliche Wirkung erzielt und viele Deutungen erfahren, was sich in Dramatisierungen, Verfilmungen und Vertonungen niedergeschlagen hat.

Kafka erzählt von Josef K., einem Bankangestellten, der eines Morgens verhaftet wird. Er weiß nicht warum und von wem. Da er absurderweise sein normales Leben weiterleben darf, versucht er damit fertig zu werden, indem er das Ganze als Spaß betrachtet oder bei einem „Verhör“ zum Angriff übergeht. Er engagiert auf Empfehlung seines Onkels einen Anwalt und besucht den Künstler Titorelli, der als Porträtmaler offensichtlich zum „Gericht“ gute Beziehungen pflegt und über Gerichtsprozesse gut Bescheid weiß. Im Dom trifft er auf einen Geistlichen, der sich als Gefangenenkaplan ausgibt. Dieser weiß, wie andere Kontaktpersonen, dass ein Verfahren gegen ihn läuft. Der Geistliche erzählt ihm die Parabel vom Türsteher vor dem „Gesetz“. Der Türsteher lässt einen Mann, sprich Josef K., paradoxerweise nicht eintreten, obwohl die Tür nur für ihn bestimmt war.

Kafkas Text ist geprägt von dem „Zustand der Welt und der Seele“, wie er sich ihm darstellt. Sie ist von der Erkenntnis geprägt, dass die Wirklichkeit beklemmend paradox ist und ausweglos. Biografisches ist offensichtlich: Schuldgefühle hatte er zum Beispiel gegenüber Felice Bauer, mit der er mehrfach verlobt war, bevor sie sich endgültig trennten. Kafka erzählt den Albtraum des Josef K. minutiös und in vielen Dialogen.

Dialoge kann man bei der Transformation in ein Theaterstück gut gebrauchen. Doch Dialoge allein machen noch keine Theateraktion. Alexander Müller-Elmau, ein erfahrener Kafkabearbeiter, hat für die WLB eine Theaterfassung hergestellt und zeichnet auch für die Regie und das Bühnenbild verantwortlich. Sein Gesamtkonzept bringt Leben auf die Bühne. Was der Anwalt und der Künstler zu sagen haben, ist teilweise auf eine Schar von Personen aufgeteilt, die K. nicht nur mit sprachlicher Aggression, sondern ganz massiv körperlich bedrängen. Bei der Umsetzung dieser Choreografien, bei denen Josef K. eingekreist und umkreist wird, sind hohe Bockleitern als Hauptrequisiten wirkungsvoll. Es werden Machtverhältnisse demonstriert und die Unmöglichkeit, nach oben der beklemmenden Situation zu entrinnen. Wichtig sind auf der Bühne auch Schuhe. Die Personen sind darauf bedacht, wenigstens ihr individuellstes Kleidungsstück zu sichern. Speziell Josef K. wird immer wieder seiner Kleidungsstücke, also seiner Persönlichkeit, beraubt.

Das Ganze spielt sich in einer gefängnishaften Blackbox ab. In diesen schwarzen Wänden klappen Öffnungen auf, Türen, aus denen in rascher Folge neues Personal quillt, das dem armen Josef K. ans Leder will. So kahl die Kulisse, so üppig sind die Lichteffekte, die durch die installierten Scheinwerferbatterien möglich werden. Als elegisches Grundmotiv wird immer wieder eine Sequenz aus Schuberts zweitem Satz der Triosonate Es-Dur eingespielt.

So bedrückend die Thematik, so lebendig und erfrischend ist die Spielertruppe aus Esslingen. Die Zuschauer haben einiges zu tun, um die Figuren nach ihren schlagartigen Rollenwechseln zu erkennen. Wer unterdrückt hat, kann nun im Sinne Kafkas ein Unterdrückter sein. He­rausragend ist die Leistung von Ralph Hönicke als Josef K.. Er steht zwar ständig im Mittelpunkt, doch den Betrieb machen andere. Trotzdem ist er in seiner oft passiven Hilflosigkeit immer präsent. Nackt und wehrlos stirbt er, als das letzte weiße Rosenblatt gefallen ist, am Schluss durch einen Schuss. Ihm ist ein würdevollerer Tod beschieden als der Romanfigur, die in einem Steinbruch erstochen wird.

Auf gleichem Spielniveau bewegt sich Kristin Göpfert in nicht weniger als fünf Rollen. Ihr ist die Aufgabe zugefallen, die Auswirkung und die Gewalt sexueller Beziehungen vorzuführen, bei der es bei Kafka nach seinen Erfahrungen keine Erfüllung und keine Harmonie gibt. Göpfert bewältigt diese Aufgabe souverän und für die Zuschauer ist beruhigend, dass auf dem Theater alles nur Theater ist. Die anderen fünf Mitspieler bewegen sich ebenfalls auf einem für eine Landesbühne erstaunlichen Niveau.

Ein kleines Theater hat großes Theater geboten und wurde mit anerkennendem Beifall belohnt.