Kirchheim

Einmal Kindheit, bitte

Mona reist nach Stuttgart (Gerberstraße 14), um sich mit Prinzessin Maria von Sachen-Altenburg und zwei unbegleiteten Flüchtling

Mona reist nach Stuttgart (Gerberstraße 14), um sich mit Prinzessin Maria von Sachen-Altenburg und zwei unbegleiteten Flüchtlingsmädchen zu treffen, die in KH wohnen.

Kirchheim. Halima staunt. Sie hat sich zögerlich ihr großes, blaues Kopftuch abgewickelt, immer wieder zweifelnd hochgeschaut – zu

Sandra, ihrer Betreuerin. Sandra nickt ihr aufmunternd zu. Schließlich steht Halima da, guckt in den Spiegel. Traurigkeit breitet sich in dem Gesicht der Jugendlichen aus. Ihre Haare sind weg. Das ist schon lange so. Trotzdem bereitet es ihr sichtlich Unwohlsein, sich so zu entblößen. Sie verzieht die Mundwinkel und setzt sich, gespannt, was jetzt kommt.

Halima ist 16. Früher hatte sie lange, schöne Haare. Dann sollte sie in ihrer Heimat Somalia zwangsverheiratet werden. Sie floh. Es war der letzte Ausweg für sie. Der ältere Mann, der ihr Ehemann werden sollte, hatte ihrer Familie schon Geld gegeben und die brauchten es. Halima lief weg – über Äthiopien, Sudan, Libyen, Italien und das Mittelmeer nach Deutschland. Jetzt wohnt sie in einer Wohngruppe in einem Ort nahe Kirchheim. Sie und Zuna (beide Namen geändert) haben sich dort gefunden. Sie sind die einzigen unbegleiteten Flüchtlingsmädchen, die die Stiftung Tragwerk betreut. Im Landkreis Esslingen gibt es nur 17.

Die Flucht über das Mittelmeer ist hart. Für Mädchen ist sie noch härter. Halima war halb tot, als sie in Libyen auf ihr Boot wartete. Mona­telang. Sie hatte nicht genug Geld, um die Schlepper zu bezahlen. Halima wurde missbraucht, mehrfach. „Sie haben mich nur mitgenommen, weil sie dachten, ich sterbe eh auf der Fahrt“, erzählt sie in Deutschland den Behörden. Allen Erwartungen zum Trotz überlebte sie. Zwei Jahre hat sie noch bis sie 18 ist – zwei Jahre späte Jugend. Sie und Zuna gehen zur Schule, verbringen Zeit mit anderen Jugendlichen und grübeln über Zukunftspläne nach. Was mit ihnen geschieht, wenn sie volljährig werden, wagt niemand zu sagen.

Halima ist angekommen in ihrem deutschen Leben. Sie sitzt in einem Stuttgarter Afro-Shop und eine Friseurin hält ihr verschiedenfarbige Haarsträhnen an den Kopf. Halima hat sich lange nicht mehr so mädchenhaft und normal gesehen, sie grinst.

Nach all dem Elend, der Flucht, der Ungewissheit scheint es fast ein bisschen albern, dass sie ausgerechnet dieser eine Wunsch – langes Haar – seit ihrer Ankunft verfolgt. Auf der Flucht musste sie ihre Mähne abschneiden: Die Haare waren verknotet und voller Läuse. Auszusehen, wie jedes andere Mädchen, bedeutet für sie ein Stück Normalität. Und das, was jedes Mädchen in ihrem Alter braucht: Selbstbewusstsein. Sie selbst hätte sich den Wunsch von ihrem Taschengeld nicht erfüllen können, doch Prinzessin Maria von Sachsen-Altenburg, die sich schon lange in der Stiftung Tragwerk engagiert, zückt ihr Portemonnaie. Die Haarverlängerung geht auf ihre Stiftung.

Viele Leute schmunzeln darüber, manche grummeln etwas von „Luxus“, doch Maria von Sachsen-Altenburg hat eine Vorliebe für solche „Herzenswünsche“, wie sie sie nennt. Sie mag unvernünftige Träume. Gerade hinter den bizarrsten Wünschen steckt oft mehr, als man denkt. Ein Mädchen, dem sie geholfen hat, wollte schon immer eine CD aufnehmen, ein Junge unbedingt mal Panzer fahren und Halima eben lange Haare. Das ist Kindheit. „Man merkt sofort, wenn sich Erwachsene einmischen“, sagt die Prinzessin. „Kein Kind wünscht sich wirklich einen Urlaub im Fünf-Sterne-Hotel. So was ist denen doch total egal.“

Auch Zuna würde gerne auf dem Friseurstuhl sitzen, aber mit ihren Stoppeln lässt sich einfach noch nichts machen. Sie hat Kopfschmerzen, schon den ganzen Tag. Ein Leid, das sie fast jeden Tag plagt und eine Folge ihrer Flucht sein könnte. Ihr zweiter Wunsch ist eine Armbanduhr – ein fast schon zu vernünftiger Wunsch. Dafür ist es am Ende die größte, glänzendste und glitzerndste Uhr im ganzen Stuttgarter Kaufhaus, die sie sich stolz um den Arm binden kann.SYMBOLFOTO: MONA BEYER