Kirchheim

„Hängebrücke“ fängt Kinder auf

Sucht Vor allem Kinder leiden darunter, wenn ein Elternteil abhängig ist. Hilfe erhalten sie in Kirchheim durch das Projekt „Hängebrücke“. Von Daniela Haußmann

Alkoholmissbrauch zerstört Familien. Vor allem Kinder leiden, wenn die Eltern ihre Erziehungsaufgaben nicht mehr wahrnehmen könn
Alkoholmissbrauch zerstört Familien. Vor allem Kinder leiden, wenn die Eltern ihre Erziehungsaufgaben nicht mehr wahrnehmen können. Foto: Jörg Bächle

Patrick hat die Reißleine gezogen. Einen anderen Ausweg hat er für sich und seinen Sohn nicht mehr gesehen, gesteht der Mann, der seinen richtigen Namen verschweigt. Wann seine Frau angefangen hat zu trinken, weiß der Kirchheimer nicht. Ein Bier auf der Party, ein Glas Wein mit Freunden, die Flasche Sekt nach Feierabend - irgendwann ist die Mutter einfach abgerutscht, ganz tief in die Abhängigkeit. Im Leben von Patricks Frau spielte die Sucht eine immer wichtigere Rolle. Irgendwann hat sie ihren Alltag komplett bestimmt.

Was muss alles passieren, dass es so weit kommt? Wieder und wieder hat sich der 42-Jährige diese Frage gestellt. Eine Antwort hat er bis heute nicht gefunden. „Sorgen, Stress, Frust, Konflikte, Krisen - all die bekannten Auslöser, keiner traf auf sie zu“, erzählt er. „Wir bauten ein Haus, schmiedeten Zukunftspläne, hatten sichere Jobs und waren glücklich mit unserem Kind.“ Patrick begreift den Absturz nicht. Der Weg in die Alkoholsucht ist schleichend. „Meine Frau trank heimlich“, erklärt er. „Anfangs nahm sie nur so viel zu sich, dass ich nichts merkte.“

Erst vor rund drei Jahren, kurz bevor der Kirchheimer einen Schlussstrich unter die Beziehung zog, erzählte ihm sein Sohn, dass „Mama so komisch schwankt“. Einmal lag sie im Wohnzimmer auf dem Boden und schlief dort vor ihm ihren Rausch aus. „Teils war sie so betrunken, dass ihr beim Kauen das Essen aus dem Mund fiel. Sie schlug mich sogar vor den Augen unseres Kindes.“ Nach drei gescheiterten Entzügen wollte der 42-Jährige seinem Sohn diese extrem belastende Situation nicht mehr zumuten. Rund 2,6 Millionen Minderjährige sind nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen dauerhaft oder zeitweise von der Alkoholabhängigkeit mindestens eines Elternteils betroffen.

Ihnen helfen Angebote wie das Kirchheimer Projekt „Hängebrücke“, das unter anderem der Kinderschutzbund initiiert hat. Dort hat auch Patricks Sohn die Chance, sich in einem geschützten, neutralen Raum Erlebnisse und Gefühle von der Seele zu reden. Begleitet von Sozialpädagogen kann er dort Wut und Enttäuschung verarbeiten und sich bewusst machen, dass er keine Schuld an der Sucht seiner Mutter trägt. „Das ist wichtig, denn Sucht wird in betroffenen Familien oft tabuisiert“, sagt Ursula Umhey vom Kinderschutzbund. Dadurch müssen vor allem die Kinder ihre Gefühle und Wahrnehmungen unterdrücken, was letztlich zu psychischen Belastungen führen kann, wie die Expertin vom Kinderschutzbund betont. Die Heranwachsenden könnten weder zu Hause noch in ihrem sozialen Umfeld über ihre Sorgen und Nöte sprechen.

Immer wieder erlebt die Sozialpädagogin, wie die Kinder Suchtkranker ständigen Stimmungsschwankungen, Streits, Trennungen, psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Viele Abhängige können ihre elterlichen Pflichten nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen werden alltägliche Aufgaben in der Familie neu verteilt. „So müssen Kinder Verantwortung für ihre Eltern übernehmen und in deren Rollen schlüpfen“, sagt Ursula Umhey. In aller Regel sind die Heranwachsenden damit chronisch überfordert.

Durch die fehlende Konsequenz und Kontinuität in der Erziehung mangelt es den Kindern nicht selten an verlässlicher Orientierung. „Das ist ungünstig, denn es fehlen Stabilität und Grenzen, die in der Familie auch Regeln und die Rollen von Kindern und Eltern klarstellen“, erklärt die Expertin. Das ist notwendig, um Kindern zu vermitteln, wie Familie, aber auch soziale Beziehungen funktionieren. Patrick jedenfalls bereut nicht, dass er sich von seiner Frau getrennt hat. Sein Sohn ist fröhlicher geworden und bringt jetzt auch Freunde mit nach Hause. Kontakt zur Mutter besteht. „Sie hat Umgangsrecht, obwohl unser Sohn Besuche abbricht, weil sie betrunken ist“, sagt Patrick, der über die Hilfe der Hängebrücke froh ist.

Info Das Hilfsprojekt „Hängebrücke“ gibt es in Kirchheim seit dem Jahr 2010. Initiiert worden ist es vom Frauenhaus, dem Kinderschutzbund und der Koordination Suchtprophylaxe des Landratsamtes Esslingen. Das kostenlose Angebot bietet Minderjährigen aus Suchtfamilien die Chance in Begleitung von Sozialpädagogen in Mädchen- und Jungengruppen das zu thematisieren, was in ihrem Alltag unaussprechlich ist. Betroffene können sich unter www.kinderschutzbund-kirchheim-teck.de informieren und mit den Fachleuten Kontakt aufnehmen. Wer die Hängebrücke unterstützen will, kann dem Projekt eine Spende zukommen lassen: Kreissparkasse Esslingen, Die IBAN-Nummer lautet: DE23 6115 0020 0101 5793 82